Arianes Faden

Ich habe Ariane wiedergesehen. Beim Ausruhen auf einer Bank im Park kommt mir in den Sinn, was sie mir vor nicht allzu langer Zeit eben hier erzählte, als ich ihr einmal nahe sein durfte:

Ariane lebt meist in ihrer ganz eigenen Welt. Vor allem nachts. Dann betritt sie ihr Labyrinth, durchschreitet all diese Räume, die sie ihr Eigen nennt. Hier kennt sie sich aus.

Gelangt sie zu den Grauen, beginnen alle mit T wie Traurigkeit, Trägheit, Trostlosigkeit, Trübsinn und Tragik. Sie sind in der Überzahl und hier tritt sie auf raue, scharfkantige Böden, die in ihre Füße schneiden und an den Sohlen nagen. Andere wieder sind wie mit Teig ausgegossen, aus deren saugendem Schmatzen sie sich nur mühsam befreien kann. Die Grauen wirken magnetisch und sie tappt immer wieder hinein. 

Die Grünen mit N-Namen wie Natürlichkeit, Normalität, Neugierde und Nachsicht mag sie wegen des frischen Duftes und ihrer Weiträumigkeit. Die Ausstattung scheint noch nicht festgelegt zu sein, sie ändert sich, so, als würde sie jedes Mal einen anderen Zeitpunkt darstellen. Gern verweilt Ariane hier und malt sich eine weitere Zukunft aus. 

Die Blauen, die beginnen mit H wie Heilung, Hoffnung, Hilfe und Handeln, erscheinen ihr durch die immer weit offen stehenden Türen zwar einladend, aber auch wie riesige Münder, die sie zu verschlingen drohen. Und sie haben auf den gegenüber liegenden Seiten keine Wände, nur ein großes leuchtendes Nichts! Ariane findet sie unheimlich und dort würde ihr wohl auch der Faden nicht mehr helfen, zurück zu finden.

Sie kennt sie alle, diese Räume, und kommt doch wieder ein neuer hinzu, ist er ihr seltsam vertraut. Oft geht sie hier, immer und immer wieder, Schritt für Schritt, Raum für Raum. Sie gehören zu Ariane, zu ihrem Leben. Sie sind ihr Innenleben, von dem das Draußen nichts weiß. 

An Türen zu Gelben und Violetten bleibt sie meistens neugierig stehen. Dort sind G-Namen vertreten wie Güte, Geborgenheit und Gnade und auch V-Worte wie Vergeben, Verzeihen und Vergessen. Ariane scheut sich noch, dort hineinzugehen. Zu ungewohnt ist das Farbenspiel in all seinen Facetten und so ungeheuer viel versprechend. Veilchenblau und goldgelb in allen Nuancen. Wie Sonnenschein und Nachthimmel, wie Sternenglanz und Tiefsee. Die Harmonie und schlichte Schönheit rufen mit leiser lockender Stimme. 

Zu mächtig, zu großartig, noch nicht vertrauenswürdig. Nächstes Mal. Vielleicht.

Es gibt auch Rote mit dem leuchtenden L, die sind ihr besonders lieb. Sie heißen Lachen, Lebendigkeit, Liebe, Lust und Leichtigkeit. Sie erscheinen ihr kostbar, wie ihr lockiges, wunderbares Haar. Sie weilt nur kurz darin, um diese Kostbarkeiten nicht zu erschöpfen, so, wie sie nur immer eine Praline nascht, nie die ganze Schachtel auf einmal.

Die Grauen, Grünen und Blauen liebt Ariane auf andere Weise, so, wie man eben Dinge akzeptiert, die nun einmal da sind und zu einem gehören, wie Segelohren oder eine krumme Nase. Die Gelben und Violetten dagegen empfindet sie wie wunderbar langes Haar, von dem sie schon immer träumt.

Sie ist gern in ihrem Labyrinth. Meistens. Wenn sie sich nicht verirrt. Früher kam das manchmal vor und sie hat dann tagelang an den Folgen gelitten: noch nicht draußen aber auch nicht recht drinnen zu sein. Dann saß sie an ihrem Schreibtisch und fühlte sich wie neben sich, noch unterwegs, nicht angekommen. Sie hat inzwischen gelernt, das Knäuel zu benutzen. 

Eines Tages hat Ariane es in ihrem Inneren gefunden. Wenn sie jetzt die Hände wie eine Schale vor ihren Bauch hält, fällt es hinein. Ein Knäuel, gewickelt aus einem feinen, unzerreißbaren Faden, der fest mit ihrem Verstand und dem Gefühl von Heimat verknüpft ist. Sie nimmt das Knäuel in ihre Hände bevor sie ihr Labyrinth betritt und spult den Faden ab, vorwärtsschreitend, ihn nach und nach hinter sich lassend. So kann sie sich in Ruhe umschauen in der Gewissheit, wieder hinauszufinden. Meistens findet sie zurück, ohne auf den Faden zu achten. 

Das sind die guten Tage.

Manchmal aber, wenn sie neue Räume entdeckt und deren Beschaffenheit sie plötzlich ängstigt, dann hetzt sie, geschwind den Faden aufwickelnd, durch den Farbenrausch der an ihr vorbeiziehenden Räume keuchend zurück zum Ausgang. Das Aufwachen ist befreiend wie hochschießendes Auftauchen kurz vor dem Ertrinken. 

Das sind die bedrückenden Tage. Aber die sind immer noch besser als jene, die sie erlebte, als sie das Knäuel noch nicht kannte.

In der Draußenwelt geschieht es ihr hin und wieder beim unvermittelten Innehalten, dass sie vermeint, das Knäuel zu spüren. Dann fühlt Ariane, wie es in ihrem Inneren ruht: Als Stein in der Magengrube. Dann liegt es ihr auf der Seele. Erinnert an Grau in Grau in Grau, enthält noch eine Ahnung von Violett und Gelb und vergessen sind Grün und Blau. 

Nur das Rot vergisst sie nie. Ein Schimmer auf ihren Wangen im Spiegel, das Leuchten ihres erdbeerfarbenen Kleides und ihre kurzen feurigen Locken erinnern sie an die roten Räume mit den kostbaren samtenen Tapeten, den seidenbezogenen Möbeln und dem Lachen und Leuchten dort und zaubern ein unvermitteltes Lächeln auf ihre jungen Lippen.

Ich habe Ariane wiedergesehen.
Langes rotes, im Wind wehendes Haar floss über ihr goldgelbes schwingendes Kleid. Sie grüßte mich mit einem Lächeln ihrer violetten Augen. Und sie trug feuerrote Stiefel.

An langer Leine, dünn wie ein Faden, folgte ihr ein kleiner grauer Hund.

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2010