Dreh dich nicht um

Da stehst du nun, mit beiden Händen an der Wand. Dein Rücken spricht mich an und wartet. Zählst du die Rauten der Tapete? Oder zählst du die Sekunden? Was zählt mehr und was zählt jetzt? Zahllose Worte hast du gefunden, als du beschrieben hast, wie du geliebt werden möchtest. Und Zahlen kamen nicht darin vor.

Ich zähle meine Atemzüge, zähle die Schritte, die es brauchen würde, dir näher zu sein. Und lande bei null. Der Raum zwischen uns ist erfüllt mit Nähe, wispert und flüstert: Nun komm! Süßes Wagnis des Widersprechens, das ich berechne und genieße… 

Und sage: Dreh dich nicht um!

Deine Finger beginnen sensibel zu tasten. Pianistenhände spielen Töne perlend, hallend an die Wand. Ein virtuoses Stakkato deiner Ungeduld, die zu verbergen deine dir selbst gestellte Aufgabe ist. Ein Auftakt, ein Aufruf, ein Morsen der Hingabe. So gibst du dich hin und es klingt wie: Ich dreh mich nicht um.

Lauschend sinke ich auf die Knie. Die Symphonie verwandelt den Raum und nimmt mich gefangen, entführt mich zu dir. In Gedanken, in Bildern, die zeigen, was war, was ist und was sein wird. Eine Ouvertüre des Hingezogenseins. Von den Schultern zieht sie mein Kleid. Und ich flüstere: Dreh dich nicht um!

Langsam wendet sich dein Ohr und lauscht dem Rascheln hinterher. Seidenton durchzieht den Raum. Empfängst geschmeidige Signale, die deine Finger zittern lassen. Sie spielen jetzt lauter, sie geben den Ton an, der deine Schultern zucken lässt. Beim Senken deines Hauptes erreicht dich mein Wille: Dreh dich nicht um!

Ich nehme die Kerze und sende ein Leuchten, das Schatten verwirft auf deiner Haut. Sie spiegelt Sanftmut, doch Kühnheit knüpft die Träger lose. Und Schattenfinger sendest du so harmlos ergreifend, so tatenlos scheinend, fällt mein Hemd. Meine Hand lässt es werfen an deine Wand. Ein Beben durchfährt dich, fast fährst du herum. Noch stoppt dich mein Rufen: Dreh dich nicht um!

Nun senkst du die Arme, die Schultern, den Blick, nur Lauschen bist du und siehst nicht zurück. Noch nicht – das Verweilen hat dich im Griff. Du meisterst das Sehnen, für dich und für mich. Weiterhin stehen, nichts sehen. Stille spricht. Dein Widerstand läuft heiß, und sengend brennt er mich nieder. So kann ich nur hauchen: Dreh dich nicht um.

Ich streife ab, was nicht zu mir gehört. Was mich verborgen hält, fällt schon hinab. So bin ich gefallen, ins Zarte und Harte und uns zum Gefallen liege ich da. Ich weiß, wie du wartest und an dich hältst. Wie auch ich erwarte, mich nichts mehr hält. Du hoffst auf Vergessen – das eine Wort, das ich nicht mehr kenne. 

Und sage erlösend: Jetzt! Dreh dich … um. 

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2018