Willkommen in der Wie-Welt

Letztens traf mich wie ein Schlag eine sagenhafte Erkenntnis! Und nein, liebe Gemeinde, das hier wird jetzt keine Abhandlung über Magisch-Mystisches, keine Märchenerzählung und auch keine Legende aus alten Zeiten. Nein, der Schrecken kam aus der ganz realen Welt. Der Wie-Welt.

Ich befand mich ganz im Hier und Jetzt: Auf dem Weg zur Arbeit, das kennen wir ja alle. Wir sind dann im allgemeinen morgens unterwegs und jetzt, im Herbst, ist noch nicht einmal die Sonne vor uns aufgestanden. Ich ging da also durch unsere kleinen, mit wohlsituierten Häuschen garnierten Straßen, und wurde plötzlich geblendet. Und zwar derart, dass ich eine Weile rein gar nichts mehr sah. Die Sonne, dachte ich. Doch weit gefehlt.

Die Sonne, eben aufgegangen hinter den Bergen, erreichte noch nicht den grauen Grund der Straßen, auf dem ich müde entlang schlich, wohl aber die oberen Etagen der Geschäftshäuser am Marktplatz. Und da erlaubte sie sich den Scherz, sich in einer hoch oben gelegenen Fensterscheibe zu spiegeln, und mir ihre Strahlen geradewegs ins Gesicht zu knallen. Sagenhaft, sag ich euch! 

Wie kann etwas, dachte ich vollkommen perplex, das doch nicht die Sonne ist, mich derart blenden, dass ich es für die Sonne selbst halte? Na? Und jetzt kommt’s: Weil wir in einer Wie-Welt leben! Das wusstet ihr noch nicht? Ist doch aber sonnenklar!

Wenn wir einen tollen Typen sehen, dann sagen wir: Oh, der sieht ja aus wie Brad Pitt. Er ist es aber nicht, denn er erweist sich lediglich als schlechter Schauspieler, wenn wir mit ihm ernsthaft reden wollen. 

Oder wir essen im neuen Bistro eine überteuerte Kleinigkeit und rufen begeistert aus: Lecker, das schmeckt wie bei Mama früher. Mama kocht aber schon lange nicht mehr für uns. Sie wird bekocht im Pflegeheim.

Wir sind Verführte, weil wir immer irgendwie WIE sein wollen. Wir sind schon längst nicht mehr wir selbst. Wenn wir überhaupt noch jemanden danach fragen, dann so: Wie geht es Ihnen heute? Ha, und wir lassen uns beruhigen, wenn er sagt: Wie immer, gut. Auch wenn er gar nicht gut aussieht.

Wir kaufen Schinken, Melone und Oliven, um uns beim Picknick wie in Italien zu fühlen. Und das mitten im Ruhrpott, auf ausgedörrter Wiese am Strand des Rhein-Herne-Kanals. 

Wir lassen uns die Haare schneiden wie Johnny Depp, um uns wenigstens hin und wieder wie ein Pirat zu fühlen, als hätten wir noch die Option, alles entern zu können, was altersmäßig erst Jahre nach uns in unseren Gewässern stranden wird.

Wie hätten Sie’s denn gern? werden wir an der Käsetheke gefragt und freuen uns, wenigstens hier die Wahl zwischen Scheibchen und am Stück zu haben. Große Freiheit – du bist anrüchig geworden wie Emmentaler, den wir tagelang in der Einkaufstasche vergessen haben.

Wir sagen: Wie konntest du nur?, wenn wir meinen: Warum hast du das getan? Du bist genau wie deine Mutter! Selbst unsere Umgangssprache ist längst infiziert: Wieso tust du das? fragen wir anstelle von: Warum?

Und das neuerdings so beliebte: Wie jetzt? geht uns munter über die Lippen, wenn wir die Welt um uns nicht mehr kapieren. Wie auch? Die Wie-Welt hat uns längst annektiert, uns eingelullt mit dem Versprechen, dass wir alles sein, alles haben können, wie jene auch, die wir uneingestanden aber nicht weniger glühend beneiden.

Wie die wieder aussieht!, lästern wir, oder: Wie der sich immer anstellt! Wir brauchen also immer den Vergleich. Aha! Doch was passiert, wenn wir die Spiegelung für die Sonne selbst halten? Oder den Clooney-Verschnitt für einen charmanten Kerl mit Klasse? Das Imitat einer Gucci-Sonnenbrille für ein echtes Designerteil? Merkt doch keiner, sagen wir, das Label klebt doch innen.

Der schreibt wie Hemingway glauben wir dem Kritiker und kaufen das Buch von Platz eins der Bestsellerliste. Warum nicht eins von Hemingways eigenen? Wir ziehen uns nachts mit hochgezogenen Schultern den Splatterstreifen rein, um uns mal wieder so richtig zu gruseln, wie damals in Frankies Bude, als unsere Eltern weg waren. Trauen uns aber nach Mitternacht nicht mehr auf die Straße.

Wir sind eindeutig Wiederholungstäter! Und weder die Strafe, als langweilig geltend geoutet, noch von der Freundin verlassen zu werden, weil wir uns von den ausgebeulten Jogginghosen beim Dinner for Two nicht trennen können, hält uns davon ab.

Wir geben uns immer öfter zufrieden mit Imitaten. Und wir kopieren auf Teufel komm raus. Plagiate gehören heut zum guten Ton. 

Wir sind unbeweglich geworden und keineswegs das Perpetuum mobile, das wir so gern nach außen kehren.

Aua, das tut weh. Wir trauen uns nicht mehr, wie früher mal, auf die Schnauze zu fallen. Wir wollen das Echte und sind nicht bereit, den Preis dafür zu zahlen. Wir nehmen die zweite und dritte Wahl und wundern uns, dass wir für niemanden mehr die erste sind.

Wir wollen wie sein, nur nicht wie wir selbst. Willkommen in der Wie-Welt!

Wie kommt das nur?

Wie konnte es nur soweit kommen?

Und wieso frage ich mich das eigentlich so widerwillig?

Wie immer liebe Grüße

Eure Gudrune

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2012