1. Kapitel

Anna

Als sie erwacht, langsam die Augen öffnet und im Dämmerlicht der Kammer versucht, sich zurechtzufinden, ahnt sie schon, es wird einer jener Tage, die ihr als besonders klar in Erinnerung bleiben werden. So, als wären sie gefeit gegen den schwachen Nebel, den das unaufhörliche Voranschreiten der Zeit mit sich bringt, ein Nebel, der sich nach und nach über vergangene Tage legt, ihnen die Schärfe ihrer Kontur nimmt und sie verblassen lässt.

Nein, sie wird sie nicht vergessen und auch nicht ungeschehen machen können. Obwohl sie es sich manchmal wünscht, weil zumeist etwas Ungewöhnliches, Unvorhergesehenes geschieht, das sie sich nicht erklären kann, das sich auch nicht ankündigt durch Sturm wie ein Gewitter. Es geschieht plötzlich, unaufhaltsam, unabwendbar. 

Das macht ihr manchmal Angst. Und gerade deshalb prägen sich ihr diese Tage ein: als jene, an denen die andere Seite zum Greifen nah erscheint, aber doch nicht greifbar wird, ja, ihr noch immer unbegreiflich bleibt.

Tage, an denen sich bestimmte Gedanken durch ihren Kopf fressen wie verschüttete Wassertropfen in einem Salznapf. Einmal darinnen lassen sie sich nicht mehr entfernen, nicht verleugnen oder verdrängen. Sie schleichen sich in ihr Bewusstsein, lassen sie unruhig werden, unsicher bei den täglichen Arbeiten. Und damit auffällig. Das ist schlimm, ja, geradezu gefährlich!

“Wer bin ich heute?”, “Wie bin ich nur hierher gekommen?” und “Wozu bin ich hier?” – Gedanken, erschreckend, weil Verwirrung und Unsicherheit in ihr auslösend. Und immer wieder ein Wort das in ihren Träumen und Gedanken auftaucht, vermutlich ein Name? Er erscheint ihr seltsam vertraut, sie kann ihn jedoch niemandem zuordnen; sie kennt keinen Menschen, der so heißt: Magdala. Auch keinen Ort, keinen Gegenstand, einfach nichts.

Sie muss mehr achtgeben, noch mehr auf sich achten. Denn sie darf nicht wieder auffallen, um keinen Preis. Sonst würde man sie, wie ihr angedroht wurde, als sie die zweite Gans an den Fuchs verlor, in Schande in ihr Dorf zurückschicken. Und das ist das Letzte, was sie ihrer Muhme zumuten will. Es würde die Leute noch mehr gegen sie aufbringen und alles nur noch schwieriger machen.

Anna reckt sich trotz ihrer Müdigkeit, dreht sich, unruhig geworden, aus der vertrauten zusammengekrümmten Lage auf den Rücken und zieht den Lumpen, der ihr als wärmende Decke dient, bis hoch ans Kinn. Magdala, Magdala. Das mit Heu vermischte Stroh raschelt unter ihr, als sie sich zurechtrückt und verströmt einen betörenden Duft nach Wiese, Weite und – Heimat.

Sie heißt doch Anna. Oder etwa nicht? Die kleine Anna vom Rethmannstal. Eine Stunde gen Mittag ist es gelegen, ihr winziges Heimatdorf, das nur aus wenigen Hofstellen besteht, dort, wo die Schwarzen Berge sich beginnen aus den Wäldern zu erheben und eine fast unüberwindliche Mauer bilden. 

Sie hat ihr Dorf so lang schon nicht mehr wiedergesehen, dass die Erinnerung langsam aber sicher zu verblassen beginnt. 

Anna fühlt die wohlbekannte Traurigkeit in sich aufsteigen, sieht ihre Muhme und den alten Falknermattel vor sich, wie sie ihr zum Abschied nachwinken. Beide haben sie bis zur Mühle, die die Dorfgrenze bildet, begleitet, damals, als sie gehen musste. Anna wäre viel lieber dort geblieben, in der vertrauten Umgebung in der sie aufgewachsen ist und wo sie jeden Baum, jedes Haus und jedes Gesicht kennt. Und natürlich alle Tiere.

Anna starrt an die niedrige Kammerdecke, ihre Blicke verfolgen im Dämmerschein des nahenden Morgens eine Spinne, die unbeirrt von der inneren Unruhe der eben Erwachten gelassen ihre Fäden zieht. Sie ist frei, denkt Anna, um so viel freier als ich. Sie darf kommen und gehen, wann es ihr beliebt, kann sich ihr Heim immer wieder neu spinnen, wo immer sie nur will. Eine Spinne, so befindet Anna, ist wohl überall zu Hause.

Magd ist Anna jetzt, Gänsemagd, um genau zu sein, und das bereits seit drei Sommern hier auf Hohenfels. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ein Mädchen mit 15 Jahren ihr Dorf verlässt und sich ihr Brot selbst verdient und es hätte ihr wohl nicht allzu viel ausgemacht, wenn sie nicht vorher ein recht freies Leben im Rethmannstal gehabt hätte. Ihre täglichen Arbeiten im Haus der Muhme waren schnell getan und dann war sie frei gewesen, ist durch die Wälder gestreift, hat die wenigen Wege, die durch diese Gegend führten, erkundet oder die Muhme und den Falknermattel begleitet, wenn diese zu kranken Leuten gerufen wurden.

Sie verwünscht einmal mehr ihre Wirkung, ihre Gabe, die sie mit sich führt, soweit sie sich erinnern kann, die zu ihr gehört wie ihre Hände und Füße: Schon immer kamen die Tiere zu ihr, als fühlten sie sich bei ihr besonders wohl. Sie verloren ihre natürliche Scheu wann immer sie ihr begegneten, drängten sich an ihre Kleider, schoben ihre Schnauzen, Schnäbel, Mäuler und Pfoten in Annas Hände und sie konnte in ihren Blicken lesen, als sprächen sie mit ihr wie sonst nur Menschen miteinander reden können. Alle im Dorf wussten davon und deshalb wurde wohl gerade sie geschickt, als der Burgvogt nach einer neuen Gänsemagd suchen ließ. Vielleicht aber auch, weil sie den Dorfbewohnern immer unheimlicher wurde. So wie auch damals ihre Mutter. Oder die alte Muhme. Oder der Falkner. Da sind noch mehr, die so sind wie sie: anders irgendwie.

Als die Spinne genau über Anna angelangt ist, hält sie kurz inne, dreht sich auf der Stelle drei Mal um sich selbst, wie Anna etwas belustigt beobachtet, und beginnt dann, sich an einem ihrer Fäden abzuseilen. Als sie jedoch immer näher kommt, geradewegs auf ihre Nasenspitze zuhält, beschließt Anna, dass es nun an der Zeit sei, aufzustehen. Eine Spinne im Gesicht ist ihr heute morgen denn doch der Tierliebe zu viel.

Magd – Magdala. Das ist die einzige Verbindung, die ihr einfällt, als sie sich von ihrem Lager auf dem Lehmboden hochrappelt. Magdala lala la mag das lala… singt es in ihr. Aber das ergibt keinen weiterführenden Sinn! Auch diese kleine Melodie, die so einfach aus ihr singt – Anna weiß nicht, woher sie sie kennt und doch scheint sie ihr so seltsam vertraut. Magdalalala…

Anna schöpft aus der kleinen Schale, die sie noch am Vorabend mit Wasser vom Brunnen im Burghof gefüllt hat, eine Handvoll und nimmt einen tiefen Schluck. Doch sogleich verzieht sie das Gesicht: Es schmeckt brackig. Ein weiteres Mal beschließt sie, abends den Weg zur Quelle auf sich zu nehmen, denn dort ist das Wasser immer perlend frisch. Nur ist sie am Ende ihres Tagewerks zumeist zu müde, als dass sie auch noch die Wegstrecke bis zur Quelle, die hinter der Burg am nahen Waldrand aus einem Felsen springt, auf sich nehmen mag. Und jetzt, wo es auf den Herbst zu geht, wird es abends auch schon dunkel sein, wenn sie endlich losgehen könnte. Der unangenehme Geschmack in ihrem Mund jedoch lässt sie es sich diesmal ganz fest vornehmen.

An ihren einfachen aus Flachs gefertigten Kleidern streicht sie glättend hinab, und gleichzeitig mit ihren kleinen Füßen nach den Holzpantinen angelnd, macht sich Anna für den neuen Tag bereit. Dann löst sie ihr Haar aus dem langen Zopf, strählt es zwischen den gespreizten Fingern, einmal, zweimal und fasst es wieder fest zusammen, zieht noch einen letzten vergessenen Halm heraus. Abschließend spuckt sie in die hohlen Hände, reibt sie aneinander und streicht dann beidseits des Scheitels ihr welliges Haar nach hinten und flicht einen neuen ordentlichen Zopf, so, wie es sich für eine Magd gehört.

Die flache Seite ihrer Grassichel muss als Spiegel herhalten und Anna schaut prüfend in die dunklen Augen, die in seltsamem Kontrast zu ihrem weizenblonden Haar stehen. “Wer bist du?” flüstert ihr das Spiegelbild entgegen, “Hast du vergessen, was die Gänsefrau dir sagte?”.

Anna prallt zurück! Es ist ihr eigener Mund auf der Sichelfläche, der sich geöffnet und zu ihr gesprochen hat – doch sind ihre Lippen nicht nach wie vor geschlossen? Nur ein wenig der Melodie in ihrem Inneren hat sie nachgegeben und lala Magdala gesummt. Sehr leise, tonlos fast, und doch hat sie eben deutlich diese Stimme gehört. Schnell sieht sie sich um, doch natürlich ist da niemand. Nur die Spinne sitzt jetzt dort, wo eben noch ihr Kopf eine Delle im Strohsack hinterlassen hat.

Es ist wohl Zeit. Anna schüttelt ungläubig den Kopf, greift dann schnell nach der Grassichel, langt nach ihrem Wolltuch und wirft es sich um die Schultern. Mit zwei Schritten ist sie an der Kammertür, streicht noch flüchtig über das hängende Büschel weißer Federn neben der kleinen Luke, die als Fenster dient, und tritt hinaus in den dämmergrauen Morgen. Aufatmend schüttelt sie sich ein wenig und streckt, sich reckend, ihre Arme gen Himmel. Erwartungsvoll hinaufschauend sieht sie jedoch nur tiefhängende Wolkenfelder eilig vorüberziehen. Ja, es ist eindeutig Herbst geworden, denkt sie, die Arme geschwindt wieder um ihren Körper schlingend. Jetzt wird sie Berta, die gestrenge Haushälterin mit dem umfangreichen Schlüsselbund, um einen wärmeren Umhang bitten müssen. Und ihr graut davor. In Bertas Nähe ist ihr von Anfang an unbehaglich gewesen, sie fürchtet ihren stechenden Blick, das unverhohlene Misstrauen, das ihr bei jeder Begegnung entgegenschlägt.

Anna macht sich mit langsamen Schritten auf den Weg um die Vorratshäuser und Anbauten für die Knechte herum, hin zu den Ställen, die all die Tiere beherbergen, die zum Bewirtschaften einer Burg vonnöten sind. Die Müdigkeit geht ihr nach wie ein lahmer alter Gaul, aber jetzt freut sie sich auf den Pferdestall und will noch kurz dem prachtvollen Hengst des Burgvogts einen kleinen Besuch abstatten. Sie kichert leise vor sich hin; niemand außer ihr traut sich so nah an das mächtige feurige Tier heran, selbst der Vogt hat mitunter seine liebe Not mit seinem Rappen. Nur bei Anna verhält sich Wacholder, dessen blauschwarzes Fell jenen Beeren gleicht, etwas sanftmütiger und lässt zu, dass sie ihm den ein oder anderen Wildapfel zustecken kann, den sie beim Gänsehüten nahe der Hecken gelegentlich aufliest. 

Waltan, der alte, kriegserfahrene Torwächter, lehnt jedoch noch auf seine Hellebarde gestützt, den Kopf gesenkt und leise schnarchend, an der Mauer neben der geschlossenen Zugbrücke und so weiß Anna, es ist noch ein wenig zu früh, um die Ställe aufzusuchen. Sie will die Knechte nicht vor der Zeit wecken, sie würden es ihr mit Grobheiten danken, die sie lieber nicht herausfordern will. 

Unschlüssig steht Anna im stillen Burghof. Sie hat nun unvermutet etwas Zeit für sich. Die ersten Vögel erwachen, stimmen ihr Morgenlied an und Anna sieht einen kleinen Spatz aus einer Pfütze trinken, während sich andere darin aufplusternd ein kurzes Morgenbad genehmigen. Wie wunderbar wäre jetzt ein Schluck frisches Quellwasser! Ja, der würde sie munter machen! Und so wendet sie sich um und schlägt den schmalen, kaum sichtbaren Pfad ein, der zu einer kleinen Pforte an der dem Tal abgewandten Seite der Burg führt. Der Wald reicht hier bis fast an die mächtigen Felsen heran, die die Burg sicher vor Überfällen schützen.

An einer kleinen halbhohen Holztüre angekommen, sieht sie sich vorsichtig um und, jetzt ganz sicher, allein zu sein, zieht sie einen kleinen Schlüssel aus ihrem Mieder, ertastet das Schloss, öffnet behände die uralte, verzogene Tür und schlüpft ins Freie. Wie immer, wenn sie diesen Weg wählt, findet sie auch heute, nur wenige Schritte von der Pforte entfernt, eine große weiße Feder auf dem Pfad, der durch die engstehenden Felsen hindurch in den nahen Wald zur Quelle führt. Erfreut liest sie die Feder auf, streicht zart, fast zärtlich schon, darüber hin und setzt ihren Weg, sich nochmals aufmerksam umblickend, fort.

Hier draußen eilt sie befreit wie aller Pflichten ledig durch den trüben Morgen. Eine Ahnung, eine Hoffnung steigt in ihr auf, zaghaft noch, doch deutlich spürbar: Da ist noch mehr! Da kommt noch etwas auf mich zu!

Nur wann? Und wo? Und warum? Wie heißt doch gleich der Spruch, der sichtbar macht, was sich in den Dingen verborgen hält?

“Oh Muhme, liebe Muhme, hätte ich doch nur besser zugehört, als du die alten Geschichten erzähltest!” Anna bremst ihren Lauf, geht jetzt langsamer, denn gleich wird sie an der Quelle sein. Nur noch um den großen Fels herum, der einzeln und mehr als mannshoch vor ihr aufragt, dann die Büsche teilen. Sie hört schon das leise Rauschen des fallenden Wassers.

Da beginnt es wieder in ihr zu flüstern, sie kann nicht anders, als zu lauschen: Es sind Muhme Margaretes Worte, die in ihr aufsteigen:

Weiche Weichheit, kläre Klarheit –

Sehe Sehnsucht, komme Kommendes –

Weise Weisheit mir den Weg –

Jetzt!

Anna hat sie eben beim Gehen vor sich hingeflüstert, sich nach und nach der Worte erinnernd, langsam, bedächtig und leise, und doch hört sie sich deutlich sprechen. Sobald das Jetzt! verklungen ist, rutscht ihr die weiße Feder aus der Hand. Sie will danach greifen, doch noch bevor diese den Waldboden berührt, beginnt sie sich zu drehen. Anna sieht erstaunt, ja erschrocken, wie die Feder sich im Fallen wendet, sich wiegend, vor ihr schwebend beginnt, sich wie von Geisterhand getragen in Richtung Quelle fortzubewegen. 

Schnell fasst sich Anna wieder und beschleunigt ihre Schritte. Sie folgt der Feder, langt am Gebüsch an, teilt es und schlüpft hindurch, eben noch erkennend, wie ihre Feder auf einem Stein neben der Quelle zur Ruhe kommt.

Dann nimmt sie gleichzeitig zwei Dinge wahr: Die Waldvögel sind verstummt und die Feder ist niedergesunken neben mehreren Gegenständen, die sich auf dem Stein befinden. Die Stille um Anna lässt sie frösteln, mehr als dass es allein der morgendliche Kühle hier draußen zuzuschreiben wäre. Schritt für Schritt nähert sie sich vorsichtig, sich immer wieder umschauend, dem Stein vor der Quelle. Er gleicht einem Stuhl mit niedriger Lehne, bequemer Sitzfläche und lädt geradezu zum Ausruhen ein. Weiches hohes Gras schmiegt sich um ihn und Moos breitet sich auf seinen ebenen Flächen aus. Hier hat sie schon manche Stunde verträumt sitzend zugebracht, aber nie ist ihr etwas Besonderes aufgefallen!

Anna lauscht: Stille, absolute Stille. Auch das Quellwasser fällt lautlos über die Steine! Das ist mehr als ungewöhnlich, findet sie, und  auch die Blätter rascheln nicht im morgendlichen Windhauch, der deutlich die Falten ihrer Kleider bewegt und mit ihrem Haar spielt, das sich durch ihr schnelles Laufen etwas gelöst hat. Es ist eine Stille, die sie berührt, die Anna willkommen heißt und ihr vermittelt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Sie hockt sich langsam nieder vor dem Steinsitz, ihre Feder fest im Auge behaltend, ist sich immer noch der Stille bewusst und schaut sich nachdenklich die Dinge auf dem Stein genauer an. Seltsam, denkt sie, wie kommt all das hierher?: ein länglicher, rundgeschliffener Bachkiesel, ein bleich gewaschener kurzer Zweig ohne Rinde mit mehreren kleinen Löchern darin sowie ein kleines, schmales, spitz zulaufendes Messer,  ihre weiße Feder. Und sie erkennt plötzlich – alles zusammen bildet ein Zeichen, ja einen Buchstaben – ein großes M!

Das kann kein Zufall sein, denkt Anna aufgeregt! Dinge legen sich nicht von allein zu solch Sinn gebenden Symbolen! Zumindest für Anna ergibt die Anordnung der Sachen auf dem Stein einen Sinn, denn sie hat das Alphabet beim Müller erlernt, der einige der wenigen Bücher besitzt, die jemals den Weg in ihr Dorf gefunden haben. Anna wurde von ihnen so sehr angezogen, dass sie unbedingt darin lesen wollte, so, wie es auch die Muhme immer wieder tat. Doch diese weigerte sich, ihr das Lesen beizubringen. Es wäre noch nicht an der Zeit hatte sie immer wieder betont, wenn Anna mit ihrem Wunsch, endlich lesen  lernen zu wollen, zu ihr kam.

So hatte sie dann heimlich den Müller gebeten, ihr einiges beizubringen und der hatte sich, wohl aus Freude über ihre Gesellschaft, gern bereit erklärt und sie im Winter bevor sie hierher nach Hohenfels kam, alles gelehrt, was er über das Lesen wusste. 

Eigentlich hatte sie, so gesteht sie sich jetzt ein, in dem alten abgegriffenen Buch der Muhme mit dem schweren nebelgrauen Einband und der metallenen Schließe lesen wollen, das diese stets unter Verschluss hielt. Gerade weil sie es nie herumliegen ließ, hatte es Anna um so mehr angezogen und sie neugierig auf den Inhalt gemacht.

Ein M also. Mmh. Magdala. Lala. Anna streckt ihre Hand aus, um die Feder wieder an sich zu nehmen und sie später zu den anderen zu stecken, die in dem Bund in der Kammer von ihren heimlichen Ausflügen erzählen. Doch gerade, als sie nach ihr greifen will, erhebt  sich die weiße Feder erneut, schwebt ihr kurz vor Augen und gleitet dann zu einem weiteren großen Felsen hin, den Anna im letzten Sommer auf den Namen Mannstein getauft hat, weil er oben von einem kleineren Brocken gekrönt ist. Zögerlich folgt sie weiter ihrer Feder und sieht sie vor dem Mannstein auf den Boden sinken und zur Ruhe kommen.

Anna eilt der Feder nach, will sie nicht verlieren, schnell beugt sie sich nieder, um sie wieder in Besitz zu nehmen, bemerkt jedoch aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung und, sofort in jene Richtung blickend, sieht sie etwas leuchtend Rotes in einem Spalt an der Seite des Felsens verschwinden.

Verdutzt hält Anna inne, greift nach der Feder und nimmt dann forschend den Spalt näher in Augenschein. Sie kann jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Wirklich merkwürdig! Sollte sie sich getäuscht haben? Haben vielleicht die zahlreichen Hagebutten an der Hecke neben dem Mannstein sie zum Narren gehalten?

Eben da erreicht sie eine Windböe, die ihre Kleider auffliegen lässt und die ein ihr nur allzu gut bekanntes Geräusch mit sich bringt: Waltan läutet oben auf der Burg die Morgenglocke! Nun wird es höchste Zeit für Anna, zurückzukehren. Jetzt hört sie auch wieder die Waldvögel singen und das Rauschen der Bäume um sich her. Es ist, als wäre nichts geschehen!

Anna springt auf, will sich keinen Ärger mit Matties, dem neuen Hirtenjungen einhandeln, denn der will ihr wie jeden Tag helfen, die Gänse, die eigentlich ihr allein anvertraut sind, hinaus auf die Wiesen zu treiben. Wenn sie zu spät kommt, wird Matties wieder das Stück Morgenbrot, das für sie beide gedacht ist, allein gegessen haben und ihr nur die Wiesenkräuter bleiben, die sie sich dann wird suchen müssen.

Im Vorbeilaufen nimmt sie noch das kleine Messer an sich, es scheint ihr etwas Besonderes zu sein. Es ist eindeutig nicht nur so verloren worden, sondern ganz bewusst von jemandem auf dem Stein abgelegt worden. Den Bachkiesel wird sie sich ein anderes Mal genauer ansehen, ebenso das Stöckchen mit den Löchern, das sie entfernt an eine Flöte erinnert. Jetzt ist dafür keine Zeit mehr!

Schnell ist Anna wieder an der Pforte angelangt und flink schlüpft sie hindurch. Sie verwahrt den Schlüssel in ihrem Mieder, steckt noch eben die weiße Feder hinzu und zieht das wollene Tuch enger um die Schultern. Das kleine Messer knüpft sie an die Kordel, die sie um die Mitte trägt und an der bereits ein kleiner Lederbeutel hängt. Sobald sie ein wenig Muße haben wird, vielleicht schon heute Abend, will sie zurück zur Quelle, zum Mannstein und sich den Spalt genauer ansehen! Mmh, nickt sie vor sich hin, Magdala. Ja, das wird sie tun. 

Sie muss sich jetzt zusammennehmen, mit den Gedanken bei den Gänsen bleiben, damit alle wohlbehalten am Abend wieder in den Stall zurückkehren. Am Abend – das klingt verlockend, ja, verheißungsvoll. Und lalamagdala, Magdala mag das, Magd mach das beginnt es wieder in ihr zu singen, als sie sich auf den Weg zu den Ställen macht.

***

Die Federsammlerin

Am Anfang war …

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