Ich steh neben mir

Ich bin kein Zwilling. Naja, horoskopisch gesehen schon. Geschwisterlich nicht. Definitiv. Wo kommt dann diese Stimme her? Wann kam sie zu mir? Sie? Ja, muss auch eine Frau sein, weil – wenn ich vor dem Spiegel stehe und das rote Shirt vor die grüne Hose halte, meint sie: “Ähm…!”, und ich schüttle synchron den Kopf und antworte: “Hast ja recht, sieht scheiße aus.” Kein Mann würde das sehen, dass rot und grün…

Ich ertappte mich also dabei, mit jemandem zu sprechen. Also innerlich, nicht laut. Sonst würde ich wohl schon längst nicht mehr hier wohnen, in diesem Großdorf, wo nix los ist. Da gibt sie mir recht, da sind wir ganz einer Meinung. Bei anderen Dingen nicht.

Sie scheint voll ausgeprägte Allergien zu haben, die ich bei mir wenn überhaupt erst im Vorstadium wahrnehme. Zum Beispiel, wenn mir mein Bauchgefühl eingibt, im Kühlschrank nach Würstchen zu suchen, sagt sie: “Schublade tiefer, das Grüne wäre gesünder!” Ich lass mir nicht gerne was vorschreiben. Also nehme ich die Würstchen. Selbstverständlich. Ich kenne mich schließlich am besten.

Sie mag bestimmte Wörter nicht: Könnte, sollte, müsste und sowas. Immer wenn in mir ein ich sollte mal wieder oder ich müsste mal aufkommt, dann sagt sie genervt: “Mach einfach!” Mann, ist die anstrengend … Und weil ich mir ja ungern was vorschreiben lasse, ignoriere ich sie. Meistens. 

Wenn ich mich allerdings dabei ertappe, mal wieder zu denken: “Ich will! Aber! Einen Mann! An meiner Seite! (Und zwar sofort!!!)”, dann lacht das Miststück. Die lacht mich einfach aus! Und dann dämmert mir: die hat recht, so einfach geht das nicht. Und mit ‘Ich will aber’ gleich dreimal nicht. Hab ich ja schließlich oft genug ausprobiert. Bin gefühlte tausendmal Kaffeetrinken gegangen. Mit potenziellen Lebensabschnittsgefährten. Und es lag nicht an der Potenz, dass daraus nix weiter wurde – als eben Kaffeetrinken. Sondern am Potenzial. Meinem oder seinem, je nachdem. Seltsamerweise hat sie bei solchen Unternehmungen immer die Klappe gehalten. Aber hinterher, da war sie voll da, mit Sprüchen wie: “Hättest du dir ja auch denken können! Oder: Hab ich dir doch gleich gesagt!” Wann bitte?

Irgendwann dämmerte mir, dass diese Stimme vielleicht mein Gewissen sein könnte. Oder mein Schutzengel, der einen Schritt hinter mir steht und mir einbläst, was ich tun oder lieber lassen sollte. Aber immer zu früh oder zu spät. Nervig sowas. 

Es gibt da also jemanden in, hinter, vor oder über mir. Der kennt mich ganz genau. Sie kennt mich ganz genau. Und wahrscheinlich schon ewig. In letzter Zeit scheint sie lauter zu sprechen. Und immer öfter recht zu haben. Diese Stimme, die weiß, was ich eigentlich will. Vielleicht sollte ich öfter als bisher auf sie hören. Auch wenn sie flüstert zum Beispiel, dass ich dem interessanten Mann gegenüber in der S-Bahn ein Lächeln schenken sollte, anstatt mich innerlich über seine dreckigen Turnschuhe zu mokieren. Dann würde das so sehr gewünschte Bauchkribbeln mal nicht von zu viel Kaffee kommen…

Ich bin nicht einmalig, das sagt sie auch. Klar, sie weiß von sich und mir, von unseren Duellen, Wortgefechten und Balgereien. Wir sind mindestens zwei. Ich und ich. Wahrscheinlich haben mir meine Eltern aus gutem Grund einen zweiten Vornamen mitgegeben. Und sehr wahrscheinlich würde ich mich ziemlich alleine fühlen, so ohne sie. Ohne die innere Stimme, die mich anspornt, auslacht, hochzieht, mit mir meckert und mir Mut macht. Ja, auch das.

Es hat etwas Inspirierendes, mal neben mir zu stehen und die Lage aus ihrer Perspektive zu betrachten. Nur am Kühlschrank, da lass ich mir die Butter nicht vom Brot nehmen, und das Würstchen auch nicht. Aber vielleicht könnte ich ein Salatblatt dazwischen tun. Und weniger Kaffeetrinken. Und mehr lächeln.

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2016