Adventus interstellare

Unter den Milliarden Lichtpunkten, die sich weit über ihr ausbreiten, beginnt einer kaum merklich an Leuchtkraft zuzunehmen. Aus diesem Fünkchen wird langsam ein deutlicher Funken, greller strahlend als die ihn umgebenden. Seine Farbe schimmert bläulicher, kälter als die aller anderen, die unverändert in der stummen Lichtsprache der Leere blinken. Er kommt, um sie zu holen. Sie wird verschwinden, verglühen, als hätte es sie nie gegeben.

Sanara erwacht, kurz bevor das Wecksignal ihrem Schlaf ein Ende setzen kann. Inzwischen vereinnahmt die Routine der vergangenen Wochen auch den Rhythmus ihres Körpers. Wieder war da dieser Traum… Die Erinnerung an das Grauen darin hat ein Abbild unbestimmter Angst in ihre Augen gezeichnet, das jedoch bald einer konzentrierten Aufmerksamkeit weicht, als ihr Blick die blinkenden Pünktchen an den Konsolen auf Normalität prüft. Natürlich, alles okay, was auch sonst. Schließlich ist sie nicht abgestürzt, havariert oder sonst irgendwie ungewollt an diesem Ort gelandet. Sie ist in der Absicht hier, diverse Messdaten und Bodenproben zu sammeln. Sie ist gesund und handlungsfähig. Und sie hat sich gefreut auf die Herausforderung, allein arbeiten zu können. Kein Kompetenzgerangel, kein Auf-die-Nerven-gehen. Mit der Einsamkeit hat sie gerechnet, nicht aber mit der Heftigkeit der Auswirkungen und dass sie so bald schon auftreten würden.

Als sie wenig später hinaustritt, empfangen sie – inzwischen vertraut und erwartet – die immer gleiche Stille und die lähmende Dunkelheit des atmosphärelosen Siriusmondes, die unheimlich wirken könnten, wüsste Sanara nicht, dass er lediglich ein großes totes Stück Gestein ist, das nie Leben auf sich trug. Geschmeidig verfällt sie in einen leichten Trab, zieht ihre Runde durch das zumeist ebene, nur von kleineren Felsbrocken gezeichnete Gelände. Feiner rötlicher Staub legt sich elektrostatisch angezogen auf den leichten Schutzanzug, dessen Systeme sie am Leben halten, als sie Schritt für Schritt für Schritt ihren Spuren vorangegangener Ausflüge folgt. 

Bald gelangt sie auf einer kleinen Anhöhe zu ihrem Aussichtsplatz, einem flachen, relativ glatten Felsen, dessen aufragende hintere Kante sie gern als Lehne nutzt. Erleichtert lässt sie sich nieder, und während sich ihr Atem langsam beruhigt, schweift ihr Blick durch die karge Ödnis, die sich in der Weite des Alls zu verlieren scheint, denn in der lichtlosen Umgebung ist kein Horizont mehr auszumachen. Nur durch das reine kalte Sternenlicht kann sie gerade noch erkennen, wo die kleine silbrige Kuppel ihrer Behausung zu finden ist.

Sanara lehnt sich zurück und blickt hinauf in das flirrende, glitzernde Gefunkel, das sich auf dem schwarzen Samt des Universums aus Abermillionen Lichtpunkten zusammensetzt. Wie schon so oft fragt sie sich, welcher davon wohl die Erde sei. Würde sie sie erkennen? Vielleicht am etwas blaueren Leuchten? Schon beginnt das bekannte und erwartete Gefühl der Verlorenheit, sich in ihr auszubreiten. Fast heißt sie ihn willkommen: diesen vertrauten bittersüßen Schmerz, das Sehnen nach Sonnenwärme und Licht, nach grüner Lebendigkeit und Lachen, nach Musik und Wellenrauschen. Und einer Umarmung. Statt dessen hier: Dunkelheit, Kälte, Totenstille, erstarrtes Gestein. Nichts Lebendiges, niemand, gar nichts. Keine Farben. Nur das kalte Funkeln im tiefschwarzen ewige All.

Dort, wo sie gelebt hat, ist jetzt … Sanara überlegt, rechnet nach. Ja, Winter! Es ist Ende November in den Bergen. Schnee wird es geben. Klirrender Frost draußen und heimelige Wärme drinnen am Feuer. Augenblicklich fällt ihr ein anderer, schon fast vergessener Traum wieder ein und zaubert jetzt ein Lächeln hervor, als sie sich erinnert, darin in einer warmen Stube voller freundlicher Menschen gewesen zu sein. Es wurde gesungen, ein andächtiges, doch froh machendes Lied, das alle Versammelten einte. Und da befand sich ein Kranz in der Mitte des dämmerigen Zimmers, bestückt mit vier leuchtenden Kerzen. All das lässt sie an ein altes, auf der Erde schon fast verschwundenes Ritual denken.

Es gab einmal vor vielen hundert Jahren eine religiöse Ausrichtung, die davon ausging, dass ein Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt hatte, um die Menschen an das wahre Leben, das echte Miteinander zu erinnern. Dieser Sohn sollte der Legende nach am 24. Dezember geboren worden sein. Und in den Wochen vor seinem wiederkehrenden Geburtstag wurden nach und nach vier Kerzen entzündet, um sich mit jeder weiteren mehr auf seine Ankunft zu freuen. Advent – Ankunft – nannte man das damals. Die Ankunft des Lichts…

Etwas in Sanara zieht sich zusammen, sodass ihr eng ums Herz wird. Die Kehle schnürt sich ihr zu und ihre Augen werden plötzlich feucht. Wann hat sie das letzte Mal geweint? Sie blickt in das Funkeln über sich, das durch den Tränenschleier seltsame Lichtschlieren bildet und geradezu aufzuleuchten scheint. Wie ein hoffnungsvolles Zeichen von… als wenn da draußen noch mehr ist – etwas, das sie nicht fassen, noch nicht begreifen kann. 

Das Gefühl des Verlorenseins schwindet, als sie beschließt, etwas zu tun. Etwas Sentimentales, etwas, das ihrer verstandesorientierten Natur zutiefst zu widersprechen scheint. Zurückgekehrt in ihre kleine Station, geht sie alle vorhandenen Ablagen mit Zubehör, Reserveteilen und sonstigen Dingen durch, die irgendwann von Nutzen sein könnten auf einer Expedition wie der ihren. Es dauert eine Weile, bis sie alles beisammen hat, das sich eignen könnte: eine Rolle stärkeren Titandrahts, rote Isolierfolie, grünliches, weiches Abdichtungsmaterial, einige Leuchtstäbe, kleine Glasplättchen. Und eine dunkelrote Decke aus ihrer Koje.

Sanara rechnet nochmals nach und ist sich jetzt sicher, dass morgen dem alten Brauch zufolge der 1. Advent sein würde und beginnt beherzt aus dem Sammelsurium ein Gebilde zu erschaffen. Sie schneidet, biegt, klebt, umwickelt und flucht, als ihre Finger zu schmerzen beginnen. Doch sie fühlt bei dem, was sie tut, eine stille Freude. Es lenkt sie ab vom Grübeln, vom Alleinsein und Warten, vom aufkommenden Zweifel daran, dass sie hier auf diesem Staubkorn des Alls je wiedergefunden wird von ihrem Team, das irgendwo da draußen treibt, in der Unendlichkeit des Universums.

Am nächsten Abend, der dunkel und still ist, wie all die Tage zuvor – Tage, an denen nur der Timer vorgibt, welche Tageszeit gerade ist, die aber durch nichts im Außen bestätigt wird – schleppt Sanara das zusammenkonstruierte Ding nach draußen zum Thron, wie sie ihren Platz auf der Anhöhe jetzt nennt. Dort breitet sie als erstes die dunkelrote Decke aus. Es ist 18 Uhr mitteleuropäischer Erdzeit und sie stellt sich vor, dass es nur deshalb so dunkel ist, weil die Wintersonne bereits untergegangen ist.

Zufrieden betrachtet sie ihr Werk. Dann schaltet sie einen der rotverkleideten, senkrecht stehenden Leuchtstäbe ein, wendet sich schnell ab, besteigt ihren Thron und lehnt sich zurück. Wow – das ist… wirklich… schön? … zauberhaft? … magisch? Sie findet keine Worte für das Gefühl in sich, das das warm leuchtende Licht im grünen Rund mit den roten umschlungenen Bändern und den glitzernden und schimmernden Glasteilchen in ihr auslöst. 

Ein Stückchen Heimat funkelt da vor ihr und ein warmes Kribbeln steigt in ihr auf, leuchtet aus ihren Augen, lässt sie vergessen, dass sie allein und gefühlte Lichtjahre von der Erde entfernt im Finstern auf einem kalten Felsen sitzt. Sie schaut sich um, und entdeckt, dass auch ihre Umgebung verzaubert wirkt. Der Lichtschein taucht alles ringsum in warme Helligkeit, nicht grell, eher so, wie der Schein eines Kaminfeuers wirken würde. Nur das Flimmern fehlt… Doch da entdeckt sie es im Schimmern der Sterne über sich, die heute nicht so starr und kalt funkeln, sondern sich zu bewegen scheinen, minimal nur, aber doch, da ist Bewegung, ein Schwingen, und Sanara meint zu sehen, wie sich farbige Nuancen bilden aus dem kühlen Blau. Da entstehen zartes Rosa und helles Gelb, lichtes Orange und strahlendes Weiß. Wie schön, denkt sie, wie überirdisch schön! Wer oder was auch immer das geschaffen hat – dieses Universum – es ist gut!

In den nächsten Tagen fällt es Sanara leichter, die Routine abzuarbeiten. Sie beginnt, Freude zu empfinden an belanglosen Tätigkeiten, es ist, als wäre ein neuer Sinn in allem, was sie tut. Und als es nach sieben Tagen an der Zeit ist, die zweite “Kerze” zu entzünden, kann sie es kaum erwarten. 

Und wieder darf sie ein kleines Wunder erleben, eine Freiheit im Fühlen, im Denken. Nichts unterliegt einer Wertung, alles ist einfach nur das, was es ist. Das genügt. Mehr braucht es nicht. 

Als sie am dritten Advent voller Vorfreude drei Lichter entzündet, reicht ihr Schein schon deutlich in die Nacht hinaus und erfasst einen großen Umkreis. Der rötliche Staub nimmt einen warmen Schimmer an, da ist keine Kälte mehr und das unbestimmte leise Grauen, das Sanara sich bisher kaum einzugestehen wagte, weicht zurück, über den Rand des Sichtfeldes hinaus, und – verschwindet.

Als sie endlich vier Lichter entzünden kann und ihr Blick sich in dem warmen Glühen verliert, fallen ihr nach und nach all jene Menschen ein, denen sie im Laufe ihres Lebens näher gekommen ist. Sie beginnt, die Liebe wieder zu empfinden, die sie für manche von ihnen gefühlt hatte und alles scheint so nah, als wäre es gestern gewesen. Sie ist möglich, denkt sie, sie ist wirklich, echt und nie fort gewesen, sie war immer bei und in ihr. Diese Liebe zu allem, was ist. Wie hat sie das nur vergessen können? Egal, wo sie sich gerade befindet, ob allein im Dunkel oder gemeinsam mit allen anderen im Licht: Nichts geht verloren. Alles ist auf ewig eins.

Sanara fühlt eine tiefe Verbundenheit mit allem und sie blickt wieder hinaus ins Universum, so, wie in all der Zeit schon, seit sie hier angekommen ist. Ja, sie ist angekommen, endlich, und nichts kann ihr das wieder nehmen. Kein Alleinsein, keine Dunkelheit, kein Fehlen von Irgendetwas. Da ist kein Warten mehr auf ein Irgendwann und etwas Unbestimmtes, nein, es ist hier, nahe und sehr real.

Als einer der Lichtpunkte beginnt, kaum merklich an Leuchtkraft zuzunehmen, steht Sanara auf. Mit festem Blick schaut sie zu ihm auf und lässt ihn nicht mehr aus den Augen. Aus diesem Fünkchen wird langsam ein deutlicher heller Punkt, greller strahlend als die ihn umgebenden. Seine Farbe schimmert hellgelb, wärmer als die aller anderen, die unverändert in der blinkenden Lichtsprache des Universums funken. Da kommen sie, ihre Kollegen und Freunde der Earthflight IV, um sie nach Hause zu holen. Und sie weiß: Sie war nie allein. Und wird es auch nie wieder sein.

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2015