Auf der Brücke

Sie spült den Pinsel aus, streift ihn am Läppchen ab und streicht mit kreisenden Bewegungen über ein kühles Chromoxidgrün, nimmt die Farbe auf und setzt zum Strich an. Es ist das gleiche Grün wie es der Fluss unten trägt. Sie zieht langsam, ganz langsam von links nach rechts über das Leinen. 

Eine unwillige Falte erscheint auf ihrer Stirn, als ein einzelner dicker Regentropfen auf die Linie fällt. Sein Zerplatzen lässt grünliche Wellen entstehen, ganz so, wie die des Wassers unter ihr. 

Erstaunt juchzt sie auf und ein Lächeln verschönt ihre faltigen Wangen und blitzt in ihren alten Augen auf. »Danke«, denkt sie bei sich, »danke Gott, dass du mir hilfst.« Er hat ihr so oft schon beim Malen beigestanden und sie würde nie auf die Idee kommen, ihre Bilder entstünden nur aus ihr selbst heraus.

Die Touristen strömen an den Staffeleien vorüber. Das Wetter ist herrlich und trotz der immer mal auftauchenden Wolkenberge, die vereinzelt ein paar wenige Tropfen fallen lassen, bleibt es sonnig. Sie freut sich, im Sommer hier sitzen zu können. Im Atelier – im Winter – ist es nicht das Gleiche, dort werden die Bilder nie so lebendig wie hier, wo sie unter freiem Himmel malen kann. 

Bernardo, ihr Künstlernachbar, schenkt ihr ein Zwinkern. Sie kennen sich viele Jahre, und auch wenn sie ebenso viele Jahre trennen, haben sie manchen Sommer hier zusammen verbracht, sind so manches Mal, ihre Malutensilien zusammenraffend, lachend von der Brücke ins nahe Café geflüchtet, wenn ein Schauer drohte, ihre Kunstwerke zu verflüssigen: Er ungeduldig vorneweg, sie winkend und langsamer hinterher. Bernardo, bester Freund, ich danke Gott, dass es dich gibt!

Mit dem kleinen Finger wischt sie zart über die wässrige Pinselspur und hebt nun zufrieden den Blick. Ein Grüppchen Asiaten, einem Schwalbenschwarm gleich, steht leise zwitschernd und höflich Abstand haltend vor ihr. Verstohlen zückt der ein oder andere seine Kamera, um diese Stimmung einzufangen, die nur hier, auf dieser Brücke, zu finden ist. Sie hätte nicht aufzuschauen brauchen um zu wissen, welches Völkchen vor ihr steht. Sie hätte es am Zwitschern erkannt. Konnichiwa, ihr Lieben!

Jede Volksgruppe, wird ihr plötzlich bewusst, hat nicht nur ihre eigene Sprache, sondern verbreitet auch ihre ganz eigene atmosphärische Stimmung. Bernardos quirlige Landsleute zum Beispiel hört man schon von Weitem, denkt sie, und taucht den Pinsel in ein Siennabraun, mischt es mit Bordeauxrot und will den Ziegeln der Kathedrale auf ihrem Bild einen zusätzlichen kräftigen Ton überhauchen. Doch der Sommerwind lässt ihren Pinsel vorschnell trocknen, so dass faserige Strukturen entstehen. Verwundert stellt sie fest: »Perfekt – danke, Gott, danke …«.

Verhalten Muslime zögerlich den Schritt, gefangen von ihrem entstehenden Bild, gleiten deren Augen immer erst über ihre nackten Arme, die Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen, um dann durch ein Lächeln Entspannung zu finden: Jetzt haben sie die Türme der Moschee auf der Leinwand entdeckt. Sie mischt nun Goldocker mit einem Hauch Zinkweiß und zirkelt den Halbmond gekonnt auf den ersten Turm. Die Männer gehen lächelnd weiter … Allah sei mit ihnen!

Als sie ihnen nachschaut, werden ihre Blicke vom leuchtend satten Orange einiger tibetischer Mönche angezogen, die ihr entgegen schlendern und schon wandert ihr Pinsel zum Kadmiumgelb, zieht kurz über das Karminrot und beginnt die Konturen der Mönchsroben auf das Leinen zu bannen. Als die Gruppe bei ihr anlangt, wird sie von ihr mit einer tiefen Verbeugung belohnt. Sie fühlt sich geehrt. »Tashi deley« flüstert sie und »Danke, lieber Gott, danke …«.

Heute ist wohl die ganze Welt auf den Beinen, denkt sie, als ihre Augen von den bunten Saris einiger indischer Schönheiten angezogen werden. Und deren Töchter erst – wie Schmetterlinge, so zart und duftig wirken sie. Auf ihrem Bild ist noch Platz für diese kleinen Falter in Karmesinrot und Kobaltgrün. Ihr suchender Blick gleitet über den Farbkasten: Preußischblau kann sie dafür nicht nehmen – sie wählt Indigo, natürlich! Das Wasserelement lässt die Farben durchsichtig, wie hingehaucht, erscheinen. Shiva sei Dank!

Auch Pater Nikolaus lässt es sich nicht nehmen, heute bei ihr vorbeizuschauen. Sie sieht ihn schon von weitem kommen. Ein Elfenbeinschwarz passt am besten für seinen Ornat, das neben den Schmetterlingen einen schönen Kontrast setzt. Ein wenig Cölinblau noch für den Himmel, noch mehr Wasser hinzu …

Sie kneift die Augen leicht zusammen, legt den Kopf ein wenig schräg, schiebt ihn vor und zurück … Ja. Fertig! 

Pater Nikolaus ist an ihre Seite getreten, betrachtet eingehend das Gemälde und blickt sie dann ernst an: »Danken Sie Gott, liebe Helene, dass Sie auf der Welt sind und Er Sie mit diesem Talent gesegnet hat!«. Dann nimmt er eine ihrer Krücken auf, die vom Geländer gerutscht ist und lehnt sie wieder an.

»Aber ja«, sagt sie leise, »Das tue ich jeden einzelnen Tag!«. 

»How much is it?« hört sie einen Touristen fragen und sieht ihn Zeigefinger an Daumen reiben, während er sie fragend ansieht. 

»It´s for free … I have so much …« antwortet sie strahlend.

Helene kann schlecht laufen, sie ist nie aus ihrer Stadt herausgekommen – dafür kommt die Welt zu ihr.

***

2010