Ausgefallene Weihnachten

Benny zwängte seine Hände gleich wieder in die Jackentaschen zurück, nachdem er das rostige schmiedeeiserne Tor mit dem Davidsstern hinter sich geschlossen hatte. Es herrschte heute eine Kälte draußen, die seine Finger fast daran festgefroren hätte. Nun ja, es war Dezember, um genau zu sein, der 24. Dezember, da erwartete er nichts anderes als Kälte, und das trübe Licht des nebligen Tages trug auch nicht dazu bei, dass ihm wärmer wurde.

It`s cold outside, eastcoast, New York. Es war der zweite Monat seines Auslandssemesters an der NYU und er war wieder einmal in Sachen Recherche unterwegs. Für ein Ticket nach Hause langte sein Geld nicht und die Kommilitonen würden heute bei ihren Familien, Freunden oder wo auch immer sein. Nicht, dass er nicht eingeladen worden wäre, aber Benny war irgendwie nicht so recht nach feiern zumute. 

Jetzt wandte er sich nach links, um in den hinteren, älteren Teil des Areals zu gelangen. Wie ausgestorben lagen die Wege vor ihm. Ja, ausgestorben, das passte für einen Friedhof wie die Marmorplatte auf die Gruft. Er ließ ein größeres Mausoleum hinter sich und begann dann aufmerksam die Stelen der Einzelgräber zu betrachten: David Burnstein 1884 – 1959, Esther Handmann 1901 – 1948, Ruth Kamirowsky 1905 – 1953, … Er schritt die Wege langsam ab, las und verglich hin und wieder die Namen mit jenen auf dem Papier, das er in den klammen Händen hielt.

Mich… Le…rd Gol…bla… 1…8 – 19… Benny blieb vor einem verwitterten Grabstein stehen. Die Goldenblatts, erinnerte er sich, standen auch auf seiner Liste der ausfindig zu machenden Einwanderer des Jahres 1945. Vorsichtig schob er vorwitzige Efeuranken beiseite und wischte mit der flachen Hand über die eingravierten Zeichen im Sandstein. Sieh an: Michael Leonard Goldenblatt. Bingo!!! * 24.12.1918 – + 16.11.1946. Auch das passt! Eifrig notierte sich Benny die Daten und den Standort des Grabes, schoss noch schnell ein Foto mit dem Handy und hakte dann den Namen auf seinem Zettel ab. Ha, hab ich dich endlich, freute er sich. Michael Leonard Goldenblatt, geboren an Heiligabend – du bist mein Weihnachtsgeschenk, ein goldenes! Sein Prof würde begeistert sein! Haben sie dich Micha gerufen? Oder Leo? Oder Goldy?

Michael Leonard Goldenblatt, das klang fast wie Michaela Leonie Gordenatt. Michaela, Michi … seine Michi.

Michi war Tausende von Meilen weit weg und er vermisste sie so sehr, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Was ist schon ein halbes Jahr, hatten sie sich gesagt, das schaffen wir locker. Skypen, mailen … Aber es war etwas anderes, sie auf dem Display zu sehen oder ihrer künstlich wirkenden Stimme am Telefon zu lauschen, als sie leibhaftig in den Armen zu halten, ihren Duft wahrzunehmen, ihren biegsamen Rücken entlangzustreichen, ihr Kichern an seinem Ohr zu hören und wie sie dabei sein Haar beiseite prustet, sodass ihn ein wohliger Schauer durchfährt.

Genug für heute, beschloss Benny, bog zügig um ein paar Ecken und strebte dem Ausgang zu, erfreut darüber, ihn im Labyrinth der Wege ohne Verzug wiedergefunden zu haben. Er wollte schnellstens nach Hause, naja, in seine Studentenbude, sich aufwärmen und mit Michi skypen und ihr von seiner Entdeckung erzählen. Aber halt – er rechnete kurz nach – nein, es war zu früh, sie würde noch nicht daheim sein. Also verfiel Benny in einen gemächlichen Schlenderschritt, ließ seine Blicke durch die Straßen dieser unglaublichen Stadt schweifen. Diesen Schmelztiegel der Nationen, Sprachen, Mentalitäten, Religionen. Nein, es würde heute nicht für alle New Yorker der Heilige Abend sein. 

Die hell erleuchteten Fenster des coffee shop an der übernächsten Ecke lockten ihn mit dem Versprechen, einen heißen Kaffee in allen nur denkbaren Varianten erstehen zu können, und Benny beschloss spontan, sich einen mit Zimt und Schokoladenstreuseln zu gönnen, denn immerhin, es war so gut wie Weihnachten. Ist das Geld auch noch so knapp, reicht`s für Kaffee in der Papp´.

Er tauchte in den warmen Dunst des shops und das Aroma frisch gerösteten Kaffees ein, schüttelte unwillkürlich die kalten Hände aus und wickelte sich dann den mehrfach umgeschlungenen Schal ab. Schön gemütlich war es hier, leise Musik schwebte durch den Raum: soon it will be christmas eve… silverbells… it`s christmas time in the city… Benny bestellte, nahm den heißen Kaffee entgegen, nicht ohne den Becher schnell von der einen in die andere Hand wandern zu lassen, um noch den Teller mit dem köstlichen Browny in Empfang zu nehmen und suchte sich dann ein Plätzchen an einem der hinteren Tische. Er nickte kurz der Dame zu, die schon vor ihm einen Platz auf der langen Lederbank gefunden hatte und ließ sich dann aufatmend nieder.

“Das tut gut!”, entfuhr es ihm mit einem erleichternden Seufzer. Von nebenan wünschte ihm sogleich eine etwas zittrige Stimme “Guten Appetit auch!”. Benny stutzte und blickte dann sein Gegenüber mit hochgezogenen Augenbrauen an, denn es waren deutsche Worte, die er soeben hier mitten in New York vernommen hatte. Er sah in freundliche, forschende Augen, die ihn aus einem gepflegten Gesicht heraus anschauten, das durch einen Mikrokosmos kleiner Fältchen sehr lebendig wirkte und von einer Wolke silbriger Löckchen umgeben war, über denen ein elegantes, aber altmodisches Filzhütchen zu schweben schien. 

“Dankeschön, und ebenso.”, erwiderte er erstaunt und als sich der von vielen Linien umrahmte Mund der doch in die Jahre gekommenen Dame zu einem einladenden Lächeln verzog, konnte er nicht anders, als es zu erwidern. “Kalt heute.”, sagte sie liebenswürdig und wies auf ihren Hut, den sie hier im gut geheizten coffee shop noch immer trug. Benny nahm einen Schluck Kaffee, stöhnte wohlig auf und meinte: “Sie sagen es. Aber hier lässt es sich gut aushalten, nicht wahr?”

Er kam schnell mit ihr ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass Amalia Scheuber tatsächlich aus Deutschland stammte, aus Dresden, und dass sie schon seit 1946 in New York lebte, mit Unterbrechungen zwar, aber jetzt, auf ihre alten Tage, wie sie schmunzelnd erzählte, will sie nicht mehr aufs Land ziehen. Die Stadt hält sie lebendig. Als Benny nach einer Weile begann, von Michi zu erzählen, was er an ihr mochte und wie sehr er sie vermisste, wo doch jetzt Weihnachten nahte, ging eine kaum merkliche Veränderung in Mrs Scheuber vor. Ein wehmütiger Ausdruck erschien in ihren lebhaften Gesichtszügen, ihr Mund spitzte sich etwas zu, sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, nicht ohne Benny aus den Augen zu lassen.

“Und?”, fragte Benny, “Mit wem feiern Sie Weihnachten?”

“Weihnachten fällt bei mir aus.”, entgegnete Mrs Scheuber knapp, “Schon seit über sechzig Jahren.”

“Oh!”, entfuhr es Benny. “Ja, aber… warum denn nur?”

“Weil ich ihn noch nicht gefunden habe. Wiedergefunden meine ich.” Sie blickte ihn dabei traurig und irgendwie abwesend an.

Benny fragte sich augenblicklich, entgegen seines bisherigen Eindrucks, ob er es vielleicht mit einer jener alten Personen zu tun hatte, deren voranschreitende Demenz sie mehr und mehr der Wirklichkeit entrückte. Eine jener traurigen Gestalten, die sich an das Gestern nicht erinnern können und in längst vergangenen Zeiten leben und die, angesichts der technischen Revolution der letzten Jahrzehnte, nicht mehr wirklich im Heute zurechtkommen.

Mrs Scheuber drehte gedankenverloren an einem hübschen goldenen Armreif, der, wahrscheinlich im Laufe der Jahre etwas zu weit geworden, an ihrem hageren Handgelenk blinkte. Benny konnte die eingravierten Buchstaben gerade noch erkennen. Zart strichen jetzt alte, leicht gekrümmte Finger über die verschlungenen Zeichen M L G. Michaela Leonie Gordenatt übersetzte er unwillkürlich still für sich. So oft hatte er Michis Initialen schon in den Vorlesungen auf irgendeinen Blattrand gemalt, wenn er an sie denken musste, dass er automatisch diese drei Buchstaben mit ihr verknüpfte.

Und so kam er nicht umhin, die alte Dame zu fragen: “Was bedeutet M L G? Für Sie?”

Mrs Scheuber zögerte, schüttelte langsam ihren Kopf und sagte dann leise: “Ich kann doch nicht aufhören zu hoffen, oder? Es ist doch nicht richtig, einfach aufzuhören und Zeit spielt doch nicht wirklich eine Rolle, nicht wahr?” Als Benny sie weiterhin fragend ansah, schob sie ein geflüstertes “… wenn man liebt.” hinterher.

“Michael, mein Micha, ist 1945 nach New York ausgewandert, hatte endlich eine Schiffspassage bekommen. In diesen Zeiten war es gerade für Juden besonders schwierig, müssen Sie wissen … Er kam auch gut an hier, es erreichten mich einige Briefe und dann hatte ich endlich auch für mich das Geld beisammen und das Visum und den Pass, aber es dauerte eben Monate, bis ich hier anlangte … entscheidende Monate zu spät.” Mrs Scheuber schaute mit in Erinnerungen verlorenem Blick durch Benny hindurch und wurde still. Schwieg. Nur ihre Finger streichelten zärtlich über den Armreif. 

Doch dann schüttelte sie leicht den Kopf, schloss kurz die Augen und schien wieder die Alte zu sein – eine freundliche, aufmerksame Dame – als sie ihn interessiert ansah und auf ihrem Gesicht breitete sich erneut ein Lächeln aus.

Benny konnte später nicht sagen, warum er sie nochmals nach den Initialen fragte, warum er unbedingt wissen wollte, was die anderen beiden Buchstaben zu bedeuten hätten. Er bemerkte ja, dass die Erinnerung schmerzlich für Mrs Scheuber war. Dennoch, irgendetwas ließ ihn die Frage stellen und als sie sagte: “Michael Leonard Goldenblatt, so heißt er. So hieß mein Verlobter. Er hatte am Heiligabend Geburtstag. Ich mag Weihnachten nicht. Es macht mich nur traurig.”, da war es an ihm, sprachlos zu sein. Mit offenem Mund starrte er sie an und es dauerte eine Weile, bis er, immer noch stumm, langsam in die Jackentasche griff und sein Handy hervorholte, daraufschaute, etwas eintippte und ihr dann zögernd das Display hinhielt. 

“Wo?”, war das einzige Wort, das Mrs Scheuber hervorbrachte. Er erklärte ihr den Weg, den er genommen hatte, und als seine Beschreibung endete, stand sie abrupt auf und hastete hinaus.

Einige Tage später traf Benny Mrs Scheuber im coffee shop. Es war keine Verabredung gewesen, aber er hatte gehofft, sie hier wiederzufinden. In den vergangenen Tagen hatte ihn eine seltsame Unruhe ergriffen und er hatte nochmals auf dem Friedhof nach dem Grab geschaut, vor dem inzwischen frische Blumen standen. Ihre Geschichte hatte ihn tief berührt und es waren ihm viele Fragen durch den Kopf gegangen, die nicht nur Mrs Scheubers Schicksal betrafen, sondern auch sein eigenes. Obwohl, er glaubte ja nicht an sowas. 

Aber er konnte nicht anders, als sich diese Fragen immer wieder zu stellen: Würde seine Liebe zu Michi auch in mehr als sechzig Jahren noch so gegenwärtig sein? Hatte sie diese Tiefe? Dieses Vertrauen? Und Michi? Wie würde es bei ihr sein? Empfand sie dasselbe wie er? Nach zwei Monaten Trennung zweifelte er noch nicht, aber was wäre, wenn aus Monaten Jahre würden? Sie hatten es beide so leicht … heutzutage.

Mrs Scheuber hatte ihn schon erspäht, kaum dass er durch die Tür trat. Sie winkte ihm aufgeregt vom bekannten Platz her zu und wartete ungeduldig, bis er sich, beladen mit seinem Kaffee und dem obligatorischen Brownie, neben sie auf der Lederbank niederließ.

“Junger Mann!”, sprudelte sie hervor, “Benny, Sie haben mir das ausgefallenste Weihnachten meines Lebens beschert. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.”

Erstaunt nahm Benny wahr, dass sie keine Spur von Traurigkeit mehr ausstrahlte, sondern dass etwas ungemein Frohes in ihrer Stimme, ja in ihrer gesamten Haltung lag.

“Keine Ursache, Mrs Scheuber, ich habe ja nicht viel dazu beigetragen. Es war ja purer Zufall.”, winkte Benny ab. Es war ihm nach wie vor ein wenig peinlich, als Werkzeug des Schicksals angesehen zu werden, obwohl er ja alles sozusagen live miterlebt hatte.

Mrs Scheuber öffnete den Mund, um etwas erklären zu wollen, schloss ihn jedoch sogleich wieder und ein herzliches Lächeln breitete sich in ihrem liebenswerten Gesicht aus. Wortlos striff sie ihren goldenen Armreif ab und reichte ihn Benny. 

Dann sprach sie mit feierlicher Stimme: “Von jetzt an findet Weihnachten wieder statt, Benny, und das hier ist mein nachträgliches Geschenk an Sie. Sie dürfen ihn gerne weiterverschenken. Wie heißt doch gleich Ihre kleine Freundin? Michaela? Michi? Sagen Sie ihr auf jeden Fall einen besonders herzlichen Gruß von mir. Und danke nochmal! Es freut mich sehr, Sie kennengelernt zu haben, denn etwas ist zum Abschluss gekommen, das mich lange Jahre, Jahrzehnte gequält hat: Die Frage, WO IST ER? Ich wusste, dass Micha nicht mehr lebt, aber, wo war er? Wo konnte ich dennoch in seiner Nähe sein? Es wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen, wenn Sie mir hier im nächsten Jahr Ihre Kleine vorstellen würden. Dann begehen wir in dieser Wahnsinns-Stadt ein ganz besonderes und ausgefallenes Weihnachtsfest, gemeinsam. Na, wie wäre das?”

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2014