Besorgungen machen

Gitte zieht sich an. Sie will noch einkaufen. Oder »Besorgungen machen« wie sie hier sagen. Sie ist mal wieder spät dran, immer auf den letzten Drücker. Jetzt in der Vorweihnachtszeit gibt es noch so viel zu tun, ihre große Familie will beschenkt werden. Eben beim Frühstück, das sie alleine mit Kerzenschein genoss, hat sie die Liste geschrieben.

Als sie die Tür öffnet weht ihr feiner Pulverschnee entgegen. Es wird glatt sein. Also ab, sagt sie sich, und läuft zielstrebig aber vorsichtig los. Ihre Gedanken wandern wieder zu diesem Wort »Besorgungen«. Sorgen hat sie freilich genug. Wohin nur ist all das Schöne, Wohltuende in ihrem Leben entschwunden? Viel zu viel Arbeit, sich sorgen um Andere bestimmen ihren Tagesablauf. Oder ist es ein »Sorgen für Andere«?

Gleichviel, denkt sie, und es muss nun mal getan werden, was getan werden muss. Ein Leitspruch ihrer Familie. Sonst kommt man zu nix. Also auf, zuerst ins Kaufhaus, da müsste so ziemlich alles, was Gitte auf der Liste hat, zu bekommen sein. Sie mag es eigentlich einkaufen zu gehen – wenn sie Muße dazu hat. Heute hat sie sie. Dieser Tag ist reserviert für all ihre Besorgungen.

Ein Menschenstrom empfängt sie an der Drehtür des stadtbekannten Warenhauses. Galeria Kaufmich – ein verheißungsvoller Name! Sie fährt mit der Rolltreppe nach oben, ihr Ziel ist die Heimelektronikabteilung. Der Sohn hat sich ein Computerspiel gewünscht. Mal schauen … aber das Angebot ist einfach unüberschaubar.

Überall flackernde Bildschirme mit den immer gleichen Programmbildern. Mal heller, mal dunkler. Irgendein Hollywoodstreifen läuft und die Filmmusik plärrt konkurrierend mit der üblichen Weihnachtsmusik durch die Abteilung. Obwohl es ziemlich voll ist, scheint niemand Notiz zu nehmen von den Hauptdarstellern, die sich gerade lachend in ein Hotelzimmer flüchten. 

Ein Hotelzimmer, ein interessanter Mann, ein riesiges Bett – wann hat es das in ihrem Leben eigentlich mal gegeben? Gitte schüttelt leicht den Kopf, dann lächelt sie: Oh ja, da war mal was, aber das ist lange her. Sie bleibt stehen, lässt sich vom Geschehen auf dem Bildschirm vor ihr fesseln. Jetzt tanzen die beiden auf das Bett zu. Und er flüstert ihr ins Ohr – Gitte kann es trotz der Musikbeschallung ganz genau hören:  »Baby – jetzt werd´ ich´s dir besorgen!«

Gitte schluckt und schaut gebannt zu, wie die beiden an ihren Kleidern zu zerren beginnen, sieht ihre leuchtenden Augen! Die ersten Hüllen fallen, die Lady sinkt auf´s Bett. Der Casanova ihr nach …

Da! Plötzlich – das Kaufhauspersonal muss wohl gemerkt haben, dass es kein jugendfreier Film ist – wechselt die Szenerie in ein nüchternes Nachrichtenbild.

Schade, denkt sie. Besorgen, ach ja, so kann »Besorgungen machen« auch sein. Warm ist ihr jetzt. Vergessen das PC-Spiel. Der ganze Kaufhausrummel ist ihr plötzlich zu viel. Sie sucht die Rolltreppe, nur raus hier. Eine Idee breitet sich in ihr aus und ihre Augen beginnen ebenso zu leuchten wie die des Paares im entschwundenen Film. War da nicht ganz in der Nähe in einer Seitenstraße dieser Shop? Beate Irgendwas. 

»Du wirst jetzt erst einmal für dich selber sorgen«, sagt eine zuckersüße Stimme in ihr, »Das hast du viel zu lange vernachlässigt. Immer an Andere gedacht, dich selbst stets hintenan gestellt.« Gittes Füße finden wie von selbst zu dem kleinen Laden. Auch hier sieht sie weihnachtlich geschmückte Schaufenster. Viel Rotes und Weißes und dazwischen Schnee und Wattebäuschchen. Recht hübsch. Und so verlockend!

Gitte steht vor dem ansprechend dekorierten Regal und kann sich kaum entscheiden. Aber das weinrote Teil gefällt ihr am allerbesten. Andächtig und senkrecht wie eine dicke rote Weihnachtskerze hält sie es in der Hand. Wirklich schön! Und aufregend! Langsam dreht sie an dem kleinen Rädchen und das Ding beginnt zu leuchten. Erst ein wenig, dann immer mehr. Die Spitze schimmert fast weiß. Wirklich, denkt sie, wie eine Kerze! Ein heller roter Lichtschein überhaucht Gittes Gesicht. Das wird ihr ganz persönliches Weihnachtsgeschenk, beschließt sie spontan, und zückt die Kreditkarte.

Die anderen Besorgungen sind vergessen. Jetzt wird sie erst einmal an sich selber denken. Gitte eilt nach Hause, wirft ihre Sachen ab, dreht die Heizung auf und zündet die Kerzen an. Der Baum steht schon geschmückt und verbreitet seinen würzigen Tannenduft. Es weihnachtet. 

Sie wird es sich selbst gut gehen lassen, die Besorgung ihrer Bestimmung zuführen und es sich ordentlich … Schließlich ist heute schon der 4. Advent. Das Christkind wird sicherlich nachsichtig mit ihr sein, mal ein Auge zudrücken und verstehen, dass sie auf keinen Fall bis übermorgen warten kann.

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2010