Bittersüß

Gedankenverloren wischt sie es nach dem Brotschneiden am rauen Tuche ab. Als ihre Finger wie nebenher an der Schneide entlang fahren, kräuselt ein höhnisches Lächeln ihre Mundwinkel. Ich hätte auch das Messer nehmen können, denkt sie. Aber die Schweinerei hinterher hätte sie dann eben auch beseitigen müssen. Dann wendet sie sich dem Herdfeuer zu, schürt es mit einigen Buchenkloben und lässt sich davor nieder, sich an der Wärme labend.

Sie nickt so entschieden mit dem Kopf, dass ihre Haare sie umfliegen wie Rabenflügel. War schon alles recht so! Immerhin hatte sie kaum Zeit zum Nachdenken gehabt. Die perfekte Moritat sollte es trotzdem werden. Schließlich wollte sie noch weitere Lichtfeste in Freiheit erleben.

Er hatte es einfach verdient! Das Maß war voll gewesen. Mehr als randvoll und dann irgendwie übergelaufen. Und ihr zu Kopf gestiegen. Kräuterhexe hatte er sie wieder hämisch genannt, in ihrer herzhaften Wildkräutersuppe gestochert und mürrisch in seinem Napf die Wurzelstückchen hin und her geschoben. Wohl um einen Rest Männlichkeit und Macht zu wahren. Und gesagt, er käme nicht mehr wieder. Wie so oft schon. Nur, um dann doch wieder aufzutauchen, nicht von ihr loskommend.

Dabei hatte sie ihm mehr als einmal geholfen, wenn er jammernd während seiner Gichtanfälle zu ihr gekrochen kam oder als ihm die Jüngere im anderen Weiler einen wohlverdienten Hexenschuss verpasst hatte. Seinem Balg hatte sie auch auf die Welt geholfen, als sein Weib zu schwach wurde. Seine aufgesprungenen Schwielen hatte sie ebenso behandelt, wie seine Hühneraugen. Gleiches mit Gleichem, so wie es vorgeschrieben war, so wie sie es gelernt hatte und so, wie es nun mal am besten wirkte. Aber als er die Augen ihres schwarzen Huhns in der Flasche mit der Tinktur schwimmen sah, hatte er sie entsetzt angestarrt, ist aufgefahren und davongerannt, hinkend. Verächtlich schüttelt sie den Kopf und schnalzt mit der Zunge.

Er war aber auch zu dämlich gewesen und hatte sich vor ihr mit der Jungen gebrüstet. Folgerichtig kam dann, was kommen musste! Mit einer von ihrer Art konnte man so nicht ungestraft verfahren. Er hatte sie eben gnadenlos unterschätzt. Sie ihn dafür in den Himmel gehoben, lange Zeit. Dafür würde er jetzt in der Hölle schmoren. Das ist so gewiss wie das Amen in deren gottverdammter Kirche.

Der alte Pfirsichbaum vor ihrem Fenster starrt als ein verzerrtes finsteres Gerippe zu ihr herein und seine Zweige scheinen im Nachthauch zu nicken. Ja, nick du nur und danke, dass du mir geholfen hast! flüstert sie mit rauer Stimme vor sich hin. Die Kerne deiner Früchte waren auch diesmal für etwas gut. Bittersüß schmecken sie, an Mandeln erinnernd. Sie gaben den köstlich duftenden Kringeln, die sie als Nachtspeise gereicht hatte, ein unvergleichliches Aroma. Und er hatte sich darauf gestürzt, zügellos wie er war. Hatte gar nicht bemerkt, dass sie selbst nur ein wenig geknabbert hatte daran.

Dann hatte er sich ziemlich plötzlich von ihr verabschiedet. Unwohl wäre ihm, hatte er gepresst geflüstert, sich den Wanst haltend. Nur recht so, geh du nur – auf Nimmerwiedersehen!

Wenn sie ihn nicht haben konnte, ganz und gar, dann sollte ihn auch keine andere besitzen. So war es seit jeher unausgesprochenes Gesetz bei ihresgleichen. Er hatte es gewusst und sich nicht daran gehalten. Selbst Schuld. 

Auch er war ein Christenmensch gewesen, hatte sich dennoch von ihr, der Ausgestoßenen, angezogen gefühlt, was sie dann doch einigermaßen verwundert hatte. Oder auch wieder nicht, denn die farblose Frömmigkeit, das immer währende Redlichtun ließ keinen Raum für leidenschaftliches Leben und Lieben. Und leidenschaftlich, das war sie – mit Haut und Haar. Oh ja! Sie hatte ihn nicht bezaubern müssen, er kam von ganz allein. So, wie vor ihm der Müller und der Dorfschulze, der Medicus und sogar der Pfaffe. Und sie würden wiederkommen, wann immer sie wollte. Willenlos waren sie alle, nachdem sie auch nur eine einzige Nacht bei ihr geweilt hatten.

Seine Gier war es schließlich, die ihn umgebracht hat, beruhigt sie sich und schiebt die jetzt leise auftauchenden reuevollen Gedanken mit einer unbewussten Geste ihrer fahrigen Hände beiseite. Während sich die Christen heute in den Häusern unten im Dorf auf die Mitternachtsmette vorbereiten, um dann eine gesegnete Weihnacht zu begehen, würde sie wieder einmal, wie all die Jahre zuvor, allein in ihrer Kate sitzen. Aber sie weiß auch, und das lässt sie vor Genugtuung das Kinn recken, sie ist nicht die Einzige! 

Sein junges Weib würde ebenso ins Feuer starren, so wie jetzt sie. Nur die würde ohne Trost sein. Tot bleibt tot – bis zum jüngsten Tag. Glaubten die. Sie selbst hingegen würde zu ihm gehen können, in jeder Nacht, die ihr gefiel. Sie konnte nicht nur auf dem Grabstein liegen und heulen wie jene, nein, sie würde ihn erwecken, wann immer sie wollte. Sie würde mit ihm fliegen und es würde sich anfühlen, wie zuvor und immer hier. Fast. 

Ja, fast, denn seinen Willen hatte sie nie ganz brechen können. Und genau das hatte sie an ihm so fasziniert! Sie hatte ihn gesehen in seiner Schmiede, stark, groß, mit erhobenem Haupt zu jedermann freimütig redend. Ein Blick von ihr hatte genügt, ihn wankend zu machen. Dann war er gekommen, wohl rein aus Neugierde. Und so war es um ihn geschehen. Nicht ganz zwar, aber … fast.

Wann immer er danach auftauchte, nie ganz freiwillig, hatte sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt und ihn doch nie ganz für sich gewinnen können. Sein verdammter Glaube hatte ihn gestärkt und doch schien ihm irgendetwas zu fehlen, das er dann letztendlich bei ihr fand. Er hätte es nie zugegeben, aber sie weiß darum, sie weiß es einfach, denn sie spürte es mit jeder Faser ihres Leibes.

Süß singt es in ihrem Inneren. Sie schaudert, reibt die Hände an ihren verschränkten Armen. Wenn er sie umfasst hatte, war sie jedes Mal nahe daran gewesen, sich zu vergessen, zu verlieren. Zu nahe. Dem musste sie einfach Einhalt gebieten. Sie wollte, sie musste überleben. Er oder sie. Sie hatte sich gegen ihn und für sich entschieden. Und dennoch …

Sie hört die Totenglocke läuten. Einer stirbt, einer wird geboren. Der Schmied, der Herr, der Heiland. Ein einsames hohles Gebimmel. 

Mit bittersüßen Zwischentönen.

***

2011