Blutbuche & Windsbraut

Wind, was fragst du mich immer wieder? Welche Antwort erhoffst du dir dieses Mal? Mond, warum klagst du mich an? Du weißt, es geschieht in den Nächten, in denen du dein Antlitz vor der Welt verbirgst und auch Sonne auf der anderen Seite weilt. Das Licht der Sterne reicht hin, zu sehen was sie tun. Aber nicht, warum.

Mit all meinen Augen blicke ich in die Weite. Ewig gleich erstreckt sich das Land zu meinen Füßen in sanften Wellen dem milchigen Horizont entgegen. Erste Sonnenstrahlen wärmen mich und vertreiben die Nachtkälte aus meinen Knochen. Wie friedvoll sich das Licht über das Grün senkt. In die Täler eingebettet, lugen hier und da Dächer der Behausungen des Volkes hervor, das sich noch vor meiner Zeit hier angesiedelt hatte. Es werden immer mehr. Und meinesgleichen muss weichen.

Bis hier hinauf, an den angestammten Platz meiner Vorfahren, wo ich im Kreise meiner Kinder und Kindeskinder lebe, wagen sie sich nicht. Noch nicht. Sie können dir nicht wie wir trotzen, sich nicht festhalten an den Felsen und in der Erde verankern, wenn du zum Sturm wirst. Sie haben verlernt, ohne ein Dach über ihren wirren Köpfen zu überleben, den Naturgewalten zu trotzen. Sie glauben, das erzerne Tönen würde sie bewahren, beschützen vor dem, was unweigerlich kommen wird. So, wie es schon viele Male kam, wenn die Zeit reif war. Wenn das Grauen, das sie in dunkelster Nacht in die Welt brachten, sich in Stürmen manifestierte und zurückfiel auf sie. Sie, die meinten, der Sonne Licht würde sie reinwaschen, weil sie nicht gesehen wurden, nicht erkannt. Doch der Wind schläft nie, auch wenn er ruht.

Also gut, Wind, ich werde dir erzählen, was sich letztens zutrug, als Sonne schlief und Mond sich abwandte. Magst du danach entscheiden, ob es dich dieses Mal besänftigt und du zur Ruhe kommen kannst. Oder ob du als Sturmgericht hinabfahren willst ins Tal. Ob du zu einem lauschenden Nichts wirst oder in deiner wahren Größe, unsichtbar für sie und doch mit all deiner furchtbaren Kraft, erscheinen wirst.

Ich sah, wie sie nach Sonnenuntergang aus dem Dämmerlicht, mit dem sich meine Brüder im Tal umgaben, in einer langen Prozession heraustraten. Sie schritten an den Schneisen vorbei, die sie geschlagen hatten, hörten nicht das Klagen meiner Verwandten, die sie getötet hatten. Wie ein glühender, sich windender Wurm kamen sie näher. Sie trugen das Feuer mit sich, das Sonne ihnen vor Urzeiten durch Blitz und Donner schenkte, denn sie sind blind des nachts. Sie stiegen durch die Felsen immer höher hinauf und ich erstarrte, weil ich ahnte, was kommen würde. Welcher Gefahr ich wieder ausgesetzt sein würde.

Sie führten ein Wesen mit langem Haar mit sich, dem sie die Hände gebunden hatten. Es schwankte zwischen ihnen, konnte sich kaum auf den Beinen halten, doch sie zerrten es voran, hinauf. Alle trugen sie schwarze zottelige Felle, die das Feuerlicht verschluckten, Schatten gleich glitten sie dahin, höher und höher hinan bis sie vor meinem Leib zum Stehen kamen – dunkle Gestalten mit geschwärzten Gesichtern, einander so ähnlich wie die Stücke, die sie aus meinen Knochen brennen. 

Sie stießen das Wesen auf den Boden, wo es wimmernd zusammenbrach und seine Finger in die Erde krallte. Gehetzt sah es sich um, doch keine Lücke tat sich auf, durch die es hätte entfliehen können. Einer Mauer gleich umstanden die finsteren Gestalten das zitternde Wesen und starrten es aus hasserfüllten Augen an, in denen der Wahnsinn Funken schlug. Dann trat einer vor, riss seinen Kopf herum, sodass es ihm in die Augen blicken musste. Es hatte so helle Augen, der Schrecken der Nacht spiegelte sich darin, und doch schimmerte es in ihnen, wie das Licht der Sterne in dunkelster Nacht.

Jemand hob an mit lauter tiefer Stimme zu sprechen und alsbald fielen andere mit ein:

Das Urteil wurde gefällt
So stirb tausend Tode
Geh aus dieser Welt
Dass nichts dich mehr hält
Verbrenne zu Asche
Und löse dich auf
Hinauf, hinauf
Verschwinde im Winde
Nichts dich hier binde
Vergehe im Sturm
Du hässlicher Wurm
So wirst du verwehen
Ungesehen
Nichts hält dich mehr
Auf Nimmerwiederkehr – Hexe, Hexe, HEXE!

Stricke wurden hinaufgeworfen und fielen über meine Arme herab. Sie banden das Wesen mit festen Knoten und zogen es hoch. Taumelnd hing es vor mir und zappelte und zitterte vor Entsetzen so sehr, dass meine Arme schwankten.

Dann wurde ein Feuer unter ihm entfacht, und als es hell aufloderte, verstummte das Wesen. Ich spürte die aufsteigende Hitze am eigenen Leib und mich durchfuhr ein Schauer des Grauens. Wussten sie nicht, dass sie mich auslöschen könnten? Dass es mein Tod wäre, wenn ich Feuer fänge? 

Flammen umzüngelten die Beine des Wesens und ein hoher Ton kam aus ihm, so qualvoll, wie ich ihn nie zuvor mitanhören musste. Da öffnete es seine Augen ein letztes Mal und blickte mich an, blickte in all meine Augen und – lächelte! 

Schon ergriffen Feuerzungen das Wesen, nagten an seinem Gewand, fraßen sich empor und als leuchtende Fackel ging sein Haar in Flammen auf. Bis zuletzt sah es mir in die Augen, so voller Sehnsucht und Hoffen, bis sich seine Augäpfel zu glühend roten Sonnen färbten und die Hitze sie davon trug und seine nackten Knochen in die Glut fielen.

Nichts blieb von ihm übrig, von dem Wesen mit dem langen roten Haar und den himmelblauen Augen, die mir bis ins Blut gesehen hatten. Ohnmächtig und erstarrt stand ich da, sein Blick wirkte tief in mir und mein Blut kreiste und wallte und stieg mir in die Augen und die Welt ward rot und schwarz zugleich. 

Die Gestalten traten zurück und weideten sich in sicherer Entfernung an dem Anblick des niederbrennenden Feuers. Vor sich hin murmelnd fuhren sie dann mit ihren Eisen durch die Glut, zerschlugen, was von den Knochen noch übrig war. Sie warfen die Asche in die Luft und verstreuten sie letztendlich ringsumher. Dann verschwanden sie in der Dunkelheit der Nacht und ließen mich, umwallt vom Aschenebel, in tiefster Finsternis zurück. Mir blutete das Herz, so sehr, dass ich Sonne durch einen roten Schleier hindurch aufgehen sah und meine Augen seitdem eine andere Farbe tragen.

Wind, nun fragst du nichts mehr? Hast du die erhoffte Antwort erhalten? Mond, warum bist du so still? Ihr wisst jetzt, was geschieht in den Nächten, in denen du dein Antlitz vor der Welt verbirgst und Sonne auf der anderen Seite weilt. Das Licht der Sterne reicht hin, zu sehen was sie tun. Aber nicht, warum sie so mit Ihresgleichen umgehen. Grausam. Unwissend. 

Wind kühlt meine brennenden Augen, streichelt meine geschundenen Arme, weht letzte Ascheflocken umeinander. Er wirbelt all die kleinen himmelblauen Stäubchen aus den Augen des leidenden Wesens in seine Mitte, lässt sich hineinfallen und spielt mit ihnen. 

Er kannte das Wesen mit dem langen Haar, das wie Sonnenaufgang leuchtete. In den Wiesen und am Waldrand waren sie einander oft begegnet, wenn er mit seinen Locken spielte und unter sein Gewand fuhr, während es mit Meinesgleichen sprach und Grünes mit besonderen Eigenschaften suchte. Sie sind immer wieder miteinander herumgetollt, und vielleicht ist es dabei geschehen, dass er es lieb gewann, dieses Wesen, mit seinem Feuerrot und Himmelblau.

Es ist nur natürlich, dass er die blauen Samen in sich wachsen lässt, dass er sich mit ihnen vermählt, sie flüsternd seine Windsbräute nennt. Sie helfen ihm, stark zu werden, in der Weite des Himmels zu wachsen, bis zur Orkanstärke anzuschwellen, zu toben – aus reiner Lebensfreude. Dann ziehen sie Wasser mit hinauf, verwirbeln es zu Wolken und bitten Donner und Blitz hinzu, es ihnen gleich zu tun. Mit jagendem Brausen tollen sie dahin, reißen jauchzend an meinen Armen, schütteln all meine Augen wild umher und sausen dann hinab ins Tal. Fahren unter die Dächer des unwissenden Volkes und lassen Regen folgen, der Fluss über die Ufer treten lässt in tosenden, alles verschlingenden Strudeln, bis das erzerne Tönen in den Fluten ertrinkt.

Erst dann lassen sie ab, ermüdet vom Spiel mit den Naturgewalten. 

Vielleicht streifen sie noch einmal durch die Wiesen, Wind und seine Braut, spielen im Sonnenlicht oder Mondschein zärtlich miteinander. Und kommen auch bei mir vorbei. 

Meine Augen dürfen heilen, sie sind anders jetzt, mehr dunkelrot als tiefgrün, wenn die Zeit vergeht im Jahreskreis. 

Wind, nun bist du besänftigt. Du hast die Antwort erhalten. Mond, du lächelst. Ihr wisst jetzt, was geschieht in den Nächten, in denen du dein Antlitz vor der Welt verbirgst und Sonne auf der anderen Seite weilt. Das Licht der Sterne reicht hin, zu sehen was sie tun. Und was eure Antwort sein wird. Beim nächsten Mal. Bis sie verstehen und wissen.

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2017