Crehella

Hastig zog sie von innen das bereit liegende Gestrüpp vor den Eingang der Erdhütte. Ihr Atem ging stoßweise, aber jetzt war sie in Sicherheit. Sie setzte den hohen Tragkorb aus Weide ab und schüttelte sich noch einmal, sodass alle Federn an ihrem dunklen Gewand aufflogen und sie einer Krähe täuschend ähnlich sah, auch wenn diese etwas plump wirkte. Selbst ihre schmale Nase wirkte im fahlen Dämmerschein ihrer Behausung wie ein gelblicher Schnabel und ihre Augen warfen einen scharfen schwarzglänzenden Blick in die Runde: Alles war an seinem Platz und genau so, wie sie es am frühen Abend verlassen hatte.

Dann verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen und ihr Mund tat es ihnen gleich, doch die Wut, die sie unterwegs bis hierher getragen hatte, verrauchte langsam. Sie atmete noch einmal tief ein, pfeifend wieder aus und spuckte dann in alle vier Himmelsrichtungen, um etwaige Verfolger, ob sichtbar oder unsichtbar, fernzuhalten.

Es war immer das Gleiche: Bar jeder Vernunft war sie im Nachhinein wieder verfolgt worden, obwohl sie von ihnen vorher extra gerufen worden war, ja, geradezu angefleht hatten sie sie, zu helfen, wo niemand sonst mehr Rat wusste. Sie hatte die Zusage, ihrer Wege gehen zu können, nachdem sie ihnen zu Diensten war. In ihrer Not wollten sie dann doch, wie immer der auch aussah, ihren Dienst!

Schluss damit! Nie wieder!

Nie wieder würde sie in dieses Nest, voll von Krämerseelen, zurückkehren, auch wenn es einmal ihr Geburtsort gewesen war und einige Verwandte dort noch lebten. Sie kam sich fremd vor unter ihnen, so, wie auch ihre Mutter und deren Mutter, die alte Ahne. Sie waren nie wirklich aufgenommen worden in der allzu frommen Gemeinschaft mit dem toten Mann am Kreuze, den sie alle dort verehrten.

Es würde sowieso nicht mehr lange gehen mit denen. Der Schwarze Tod war unter ihnen und jeder glaubte, der Mächtige, der Vater des toten Mannes, zahle ihnen ihre Sünden mit Zins und Zinseszinsen heim. Sie wussten nicht, dass es auch noch andere Mächte gab. Sie wollten es gar nicht wissen. Genau so wenig, wie alles Lebendige um sie her ein Mittel spenden konnte zur Heilung. Man konnte lernen! Man musste nur wissen! Und dann handeln!

Sie hatte gelernt. Sie wusste. Als sie handelte und dann der arme Jacob wieder die Augen aufschlug, zur Gabel griff und nach Essen verlangte, war die Freude groß, doch sie währte nicht lange. Der Vertreter des toten Mannes auf Erden verleumdete sie wie so oft. Es könne unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein, keifte er und sie müsse mit dem Bösen im Bunde sein.

Die rechten Dinge? Pflanzensaft und Wurzelkraft – was konnte daran unrecht sein? Der Heilige Geist wohnte in jedem von ihnen, so wie in allem, was es auf Erden gab, in jeder Pflanze, jedem Stein, allen Tieren, selbst im Feuer, im Wasser und im Wind. Wie konnten sie es nur vergessen?

Oh heilige Einfalt, Mutter aller Dummheit, deine Kinder gedeihen. Sie heißen Blindheit, Taubheit und Angst und sie mischen sich immer noch gerne unters Volk, ja, sie werden sogar freudig willkommen geheißen. Da hilft dann auch kein Kraut mehr irgend etwas. Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen.

Sie langte nach einigen unverzichtbaren Dingen in den dunkleren Ecken der Hütte, um ihre Habe zusammenzupacken. Hier wollte und konnte sie nicht mehr bleiben. 

In aller Frühe, im Schutz der Morgennebel, würde sie ihren Stab nehmen, in dessen Gabelung die Kugel aus Bergkristall ihr mattes Leuchten aussandte, und fortgehen. Das Leuchten würde sie führen. Vielleicht fand sie in einem anderen Land, auf einem fernen Fleckchen Erde ein freieres Volk. Leute, denen nicht die Angst vor Unbekanntem im Nacken saß und die noch nicht verdorben waren von der Furcht vor dem toten Mann und dessen allmächtigem Vater. 

Vielleicht würde diesen hier später einmal, wenn sie auch den Heiligen Geist richtig zu deuten wussten, die Einfalt abhanden kommen. Denn als Dreifaltigkeit war ihr Glaube dereinst gemeint gewesen. Sie hatten es nur vergessen. Oder es war ihnen nicht wahrheitsgemäß überliefert worden. Oder andere – menschliche – Mächte hatten ihre Verderben bringende Hand im Spiel. 

Wie dem auch sei – sie wollte fort. Hier hatte sie nichts mehr zu schaffen, hier gab es für sie nichts mehr zu tun, das ihrem Lebenszweck, Heilung zu bringen, entsprechen durfte.

Sie lugte noch einmal nach draußen, bevor sie sich zur Ruhe begab: Hier hatte sie nichts mehr verloren. Und gefunden auch nichts. Keine Aufnahme, keine Achtung und auch keinen Dank.

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2012