Das blaue Leuchten

Seine Finger bewegen sich flink und die Schwielen an den Händen hindern ihn nicht, fein und genau zu arbeiten. Geschickt umwickelt Madaram mit einer Sehne das Speerende und befestigt so die himmelblauen Federn, damit die Luftwesen dessen Flug ins Jagdziel wohlwollend begleiten können. Das Ende der Sehne fest in der Hand haltend, schnippt Madaram einige Male daran, lauscht den surrenden Tönen, stößt dazu in ihm aufsteigende singende Laute aus und lächelt dann mit blitzenden Augen zu ihr herüber.

Sadara erwidert sein Lächeln und erhebt sich, wendet sich wieder ihren Aufgaben zu. Das Feuer am Höhleneingang verlangt nach neuer Nahrung und die heute gefangenen Wasservögel, von denen auch die blauen Federn stammen, wollen zubereitet werden. Sie gesellt sich zu den anderen Frauen, die schon begonnen haben, die Wurzeln und Beeren zu bearbeiten und greift sich dankend an das Amulett auf ihrer Brust, das ebensolche Federn zieren, wie sie auch ihr Sohn gerade verarbeitet. Sie sieht noch einmal hinüber zu ihm. 

Die Wunde an seinem Arm, die der Säbelzahntiger riss, ist gut verheilt. Es wird eine ehrenvolle Narbe bleiben, die von seinem großen Mut kündet. Ihr fällt auf, wie sehnig seine Arme geworden sind und auch, dass er noch ein gutes Stück gewachsen ist in der letzten Zeit. Ja, er ist nun ein Jäger, ein Mann, der stolz den Zahn seines Geisttieres trägt. Und war doch eben noch ihr Sohn, der mit leuchtenden Augen und hellem Lachen mit Stöcken und den Gefährten das Spiel übte, das jetzt Ernst geworden ist und ihr aller Überleben sichert.  

Das Leuchten ihrer Augen verschmilzt mit dem der blauen Federn und, ebenso leicht wie sie, fliegt es hinaus in die Steppe bis zum bläulichen Dunst des Horizonts, weiter in den Abendhimmel und verschmilzt mit dem Licht der ersten aufgehenden Sterne.

***

Saadi beruhigt sich, jetzt, wo sie seinen Kopf wieder auftauchen sieht. Schon kommt Madere prustend und strahlend aus der Brandung zu ihr gelaufen und schüttet ihr die vielen großen und kleinen Muscheln vor die Füße. Dann lässt er sich neben sie fallen und schüttelt sein nasses langes Haar so heftig, dass seine Schwester aufkreischt und ihm lachend Hände voll weißen Sandes zuwirft.

Madere rutscht nun näher zu ihr und gemeinsam betrachten sie die Schätze, die er soeben vom Meeresgrund geborgen und jetzt dem Sonnenlicht übergeben hat. Saadi greift zielgerichtet zu einer unscheinbaren Muschel, fordert ohne aufzublicken von Madere das an seinem Lendenschurz befestigte Knochenmesser und zwingt sogleich die Klinge zwischen die Schalen.

Staunend betrachten sie das blassblaue Leuchten der Perle im Inneren. Nach einem Moment der Andacht, der die Geschwister gefangen hält, wirft Saadi ihre Arme um Madere, reibt ihre Nase an seiner und bedankt sich so auf die übliche Weise, nur dass es heute schon fast ein wenig weh tut, so heftig fällt ihr Dank aus. Saadi ist sprachlos vor Freude. Nun wird auch sie solch eine Perle tragen können wie ihr Bruder und die Eltern und überhaupt alle in ihrer Sippe. 

Perlen gibt es viele und sie sind leicht zu finden, aber diese blauen hier sind so selten, dass sie als Kostbarkeit und Geschenk der Götter gelten, Glück und ein langes Leben verheißen.

Madere freut sich mit ihr und Stolz breitet sich in ihm aus. Doch dann wird er still, und nachdenklich nimmt er eine große Muschelschale in die Hand, greift zu einem langen trockenen Streifen Seetang und beginnt, sie zu umwickeln. Er muss an Tanahe denken, seine ältere Schwester, die nun schon einige Sommer zum Blauen Leuchten heimgekehrt ist. Madere zupft an den Tangsträngen und lauscht auf die aufsteigenden vibrierenden tiefen Töne. Trotz der blauen Perle, die auch Tanahe begleitete, wurde sie so früh zurückgerufen. Vielleicht hatte sie ja ihre Lebensaufgabe erfüllt. Immerhin war sie es, die auf ihren Streifzügen den neuen Siedlungsplatz entdeckt hatte, an dem es auch genügend Süßwasser gibt und der weit genug entfernt von den Fremdlingen liegt. Hier sind ihm schon etliche Perlenfunde geglückt.

Saadi streichelt seinen Arm und holt ihn damit in die Gegenwart zurück, sie hält sich die kostbare Perle vor die Augen und blickt hindurch zu ihm und schenkt ihm damit ein leuchtend blaues Lächeln, das zwischen ihnen hin und her zu springen beginnt und sich in ihren Augen widerspiegelt bis sie beide lächeln, dann lachen und immer lauter und fröhlicher werden, bis sie atemlos auf dem Rücken liegen, weich getragen vom weißen Sand ihrer Heimatinsel.

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Sahe Nti verfolgt aus ihrem luftigen Versteck heraus gebannt das Auf und Ab der Sehne, mit der Maha Te die Tierhaut auf den Rahmen spannt. Sie lauscht den surrenden tiefen Tönen, die dabei entstehen und vernimmt, wie Maha Te leise Worte dazu singt. Sahe Nti kann sie nicht ganz verstehen und würde eigentlich lieber näher kommen, aber es ist ihr streng verboten. Sie weiß, sie dürfte gar nicht hier sein, denn es ist niemandem erlaubt, dem Schamanen bei der Anfertigung seiner Gerätschaften zuzusehen. Und eigentlich wundert es sie, dass ihr Vater sie nicht längst entdeckt und fortgeschickt hat.

Jetzt ist die Büffelhaut gespannt und Maha Te greift in einen kleinen perlenbestickten Lederbeutel. Als seine Hand wieder zum Vorschein kommt, glaubt Sahe Nti einen hellen Schimmer, ein schwaches blaues Leuchten wahrzunehmen. Sie schiebt ihren Kopf vorsichtig weiter aus dem Blätterdach und zupft dabei vor Aufregung an den kleineren Zweigen. Ihr wird ganz heiß vor Schreck, als sich ein Blatt löst und kreiselnd nach unten segelt, geradewegs in die Mitte der neu entstandenen Trommelfläche. 

Doch Maha Te schaut nicht nach oben, hält nur kurz inne. Seine Hand fingert jetzt nach etwas anderem in dem Lederbeutel. Sie findet das gesuchte Stück Holzkohle und mit der einen Hand das Blatt genau da festhaltend, wo es hingefallen ist, umzeichnet er mit der anderen dessen Umriss und als er es aufnimmt, zeigt das helle Leder eine dunkle fünffiedrige Form. Das passt, denkt Sahe Nti, wir gehören doch zum Ahornklan! Auch hier im Reservat. Maha Te scheint es ebenfalls zufrieden zu sein, denn wohlwollend betrachtet er sein Werk. 

Seine Hand verschwindet wieder im Beutel und erneut holt er etwas hervor. Blau schimmern kleine Steine in seiner Hand. Sahe Nti glaubt sich zu erinnern, dass der Vater ihres Vaters sie von seinen langen Wanderungen zu den Blauen Bergen mitgebracht hatte und dass ihnen eine große Kraft innewohnen soll. 

Maha Te knüpft nun Federn, die blauen Steine und kleine Knöchelchen zusammen und befestigt sie geschickt am Trommelrahmen. Schüttelnd hebt er jetzt das Instrument über seinen Kopf. 

Durch das Sonnenlicht, das sich in den kleinen Steinen fängt, entstehen direkt vor Sahe Nti leuchtende blaue Kreise und die sie so gefangen nehmen, dass sie die Stimme ihres Vaters erst hört, als er, seinen Arm nach oben reckend, ihren Fuß greift und sie ruckartig vom dicken Ast herunter zieht. 

Sie landet kreischend im Schoß ihres Vaters, der sie ernst ansieht. “Sahe Nti,” sagt er, “du weißt nun, wie die Trommel zu bauen ist. Wenn ich einmal heimgegangen sein werde, musst du dich daran erinnern. Merke es dir gut!” Und er streift ihr ein kleines Lederband über den Kopf, das fünf eingeknüpfte blaue Steine trägt, deren Glanz sich in seinen Augen spiegelt.

Sie schweigen lange, nur berührt vom blauen Leuchten, das auch nicht erlischt, als die Sonne hinter den Blauen Bergen zur Ruhe geht.

 ***

Er spielt unbewusst, während er spricht, mit der Klappe seines blauen Laptops, und die sich darin spiegelnden Sonnenstrahlen gleiten bläulich schimmernd über die erwartungsvollen Gesichter seiner Mitarbeiterinnen. Er ist, nach Worten ringend, in seine Rede vertieft und die anderen sind mit dem Verarbeiten der Neuigkeiten beschäftigt. So nimmt niemand außer Sofie diese leuchtenden Reflexionen wahr. Sie hatte schon vorher erfahren, dass er gehen würde und sie fühlte sich auf unerklärliche Weise verlassen. 

Matthias ruhige Art, die manche als Schwäche auslegen, seine unkonventionelle Sichtweise, sein Umgehen starrer Regeln, wenn es den ihnen Anvertrauten zugute kommt, sein Schlichtenkönnen ohne sich auf eine Seite zu schlagen – all das hatte Sofie angezogen und sie sich vom ersten Tag an wohlfühlen lassen auf der neuen Arbeitsstelle. Spätestens wenn er mit allen lachte, sang und Gitarre dazu spielte, spürte auch der Letzte, dass Matthias Wärme, Mitgefühl und Spontanität einbrachte. 

Wieder ein helles Aufblitzen. Blaues Leuchten, denkt sie, wie bei meinem Mondstein. Sie greift sich unwillkürlich ans Ohrläppchen. Ja, da sind sie, und auch die passende Kette trägt sie heute.

Sie schaut resigniert auf den Anhänger. Es wird weniger warm sein hier. Wie eine Schar Hühner sind wir dann, nur ohne Hahn. Und die jüngeren Hennen werden sich wieder zu hacken beginnen. Sofie ist des Hickhacks so müde.

Ihr Mondstein glüht kurz auf, getroffen von einer weiteren Reflexion von gegenüber. Matthias hat das Laptop geschlossen. Es ist alles gesagt. 

In der Teeküche diskutieren die Kolleginnen, stoßen ein letztes Mal miteinander an. Plötzlich will sie nur noch weg. Sowas Blödes, so schlimm ist es nun auch nicht. Doch sie fröstelt. Die Sonne scheint, als wäre nichts geschehen. Wärmt aber nicht, dabei ist es bereits Mai. Alles verkehrt, denkt Sofie.

Hinter ihr schwingt die Tür auf und die angeschlagene Gitarre gibt einen erstaunlich melodischen Akkord von sich. Matthias lädt seine restlichen Sachen ins Auto und kommt noch einmal zu ihr. “Du bist doch mit die Älteste hier,” sagt er. “Sofie, hab ein Auge auf die Hühner, auf dich hören sie.” Und Sofie glaubt, nicht richtig zu hören. “Aber …”, will sie ansetzen. Doch er drückt schon fest ihre Hand, umarmt sie ein letztes Mal. “Ich hatte ihn immer dabei,” sagt er. Fragend blickt sie zu ihm hoch. Doch schon dreht er sich um, steigt ein und ist fort, gerade, dass sie noch danke sagen kann. 

Nun ist ihr doch warm geworden. Sie schaut nach unten, öffnet ihre Hand. Woher wusste er nur? – ein besonders schöner Mondstein liegt darin, in dem sich das Sonnenlicht jetzt verfängt und von dem ein starkes blaues Leuchten ausgeht. Fest umschließen ihre Finger den Stein. Sie sieht auf ihre Faust hinab und beginnt die Kraft zu fühlen, die sich darin verbirgt. Ein Hühnergott sieht eigentlich anders aus, denkt sie, und muss plötzlich befreit kichern.

***

2012