Das Seine

Mühsam stützt er sich auf dem Waschbeckenrand ab. Wo ist nur seine Kraft geblieben? Er ist erst Ende dreißig – und doch, als er seinen Blick zum Spiegel hebt, schaut ihn ein alten Mann an: Zerknittertes Gesicht, rotgeränderte Augen, verkniffener Mund, hohle Wangen, graue Bartstoppeln, zerwühltes strähniges Haar.


Joachim richtet langsam sein müdes Kreuz auf, versucht sich gut zuzureden, aber als er seinen bekleckerten Pyjama sieht, winkt er nur noch ab. Er hat vergessen, ihn zu wechseln. Dann bringt er ein hohles Grinsen zustande und flüstert sich zu: Altersheimer! Und muss unweigerlich an Elisa-Beth denken.

Sie liebte Wortspiele über alles und aus vielen seiner ernsten und erhabenen Worte hatte sie spontan Verballhornungen gemacht. Meistens hatte er sich darüber geärgert, manchmal konnte er mitlachen. Er hatte sich von ihr oft einfach nicht ernst genommen gefühlt! Bei ihr wurde Alzheimer zu Altersheimer, Pizzaschneider zu Blitzableiter, neue Tastatur zu Metastase und Teppich zum Tief-Lieger. Für alles hatte sie ständig neue Namen. Es war anstrengend, wenn er mit ihr ernsthaft reden wollte. Aber nie langweilig. Ob er sie wohl mit seiner Griesgrämigkeit vertrieben hatte?

Joachim kramt aus dem Badschränkchen ein Päckchen Aspirin und klemmt sich die Taschentuchbox unter den Arm, nimmt noch den feuchten Waschlappen und schlurft langsam, sich an den Wänden entlang hangelnd, zurück in sein Wohnzimmer. Erschöpft lässt er sich auf das Sofa sinken. Es dient ihm seit zwei Nächten als Lager, damit er es in seinem Zustand bis zum Telefon nicht so weit hat. Ächz – so eine Grippe konnte verdammt unangenehm sein.

Endlich liegt er und das Flimmern vor seinen Augen und das Sausen in den Ohren lassen etwas nach. Sein Schädel jedoch brummt noch mit dem Kühlschrank um die Wette. Mist, er hat das Wasserglas vergessen! Egal. Dann eben ohne nachspülen. Er zieht die Aspirinpackung zu sich, pusselt sie auf und drückt eine Tablette heraus. Just in diesem Moment springt sein Kater Fantomas zu ihm auf den Schoß und Joachim kommt zugleich ein unabwendbares Niesen an. Pschrrrhachchch – und weg ist sie, die Tablette, unter das Bett gerollt. Ein Blick in die Packung bestätigt seine Ahnung, dass es die letzte gewesen ist. 

Ärgerlich und mit tränenden Augen schaut Joachim den Kater an, aber der dreht nur hoheitsvoll den Kopf, schielt zur Zimmerlinde und lässt sich am Fußende nieder. Fast meint Joachim, ihn grinsen zu sehen. Aber er ist zu schlapp, um sich noch über irgend etwas aufzuregen und sinkt kraftlos in die Kissen zurück. Langsam gleitet er in einen halbschlafähnlichen Zustand. Aus schon fast geschlossenen Augen nimmt er noch Elisa-Beth´ Karte mit dem Kobold Zachadeus an der Wand vor ihm wahr und Fantomas neugieriges Näherkommen, dann dämmert er weg.

Joachim träumt. Er sieht sich auf einem sonnenbeschienenen Weg schlendern und in ein lebhaftes Gespräch mit Zachadeus vertieft, der neben ihm frohgemut auf dem roten Kater Fantomas reitet. Was müssen sie für einen seltsamen Anblick bieten…

»Ich habe die Nase voll!« Hört er sich gerade sagen.

»Stimmt.« antwortet Zachadeus.

»Ich will das nicht haben.«

»Dann lass es.«

»Aber ich habe nun mal Grippe.«

»Nur weil du es so willst und brauchst.«

»Wie bitte!?«

»Dein Körper zeigt dir, dass du DIE NASE VOLL von einigen Dingen hast.«

»Aber die Viren…«

»Quatsch. Viren sind überall und nirgendwo. Ob sie bei dir landen dürfen, das entscheidest du.«

»???«

»Dein Anrennen gegen die Welt um dich herum und dein Nicht-Wahr-haben-wollen und Ändern-wollen der Umstände kosten dich viel Kraft. DAS schwächt dich. Nicht die Grippe. Die zeigt dir nur WIE geschwächt du bist.«

»So leicht ist das nicht, wie du da behauptest: einfach nur die Einstellung ändern…«

»Habe ich gesagt, dass es leicht ist? Aber möglich ist es. Es gibt unendliche Möglichkeiten im Sein. Du hast doch nun mein Buch gelesen. Hast du so wenig verstanden?«

»Du meinst, ich suche mir aus, ob ich Grippe bekomme oder nicht?«

»So ungefähr. Du erschaffst die Möglichkeit, eine zu bekommen.«

»Wie denn?«

»Wie gesagt: Durch dein Anrennen gegen…«

»Schon gut, schon gut. Ich verstehe.«

»Freut mich außerordentlich.«

»Und die anderen Leute, die Grippe haben, rennen die auch… ?«

»Jedem das SEINe.«

»Oh – das ist ja…«

»Ja, finde ich auch!«

Joachim verdreht seufzend die Augen himmelwärts und wird plötzlich der kleinen Leute gewahr, die durch die Weidenzweige über ihm lugen. Sie sehen aus, als wären sie Verwandte von Zachadeus. Verrückt war das. Aber gleichsam zauberhaft und irgendwie ist ihm, als kenne er sie alle…

***

Als Joachim am nächsten Morgen erwacht, fühlt er sich seit langem zum ersten Mal wieder richtig ausgeschlafen. Die ihn umgebende Helligkeit lässt auf einen sonnigen Tag schließen. Sein Blick wandert zum Fenster: Ja, blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Eine sieht aus wie eine Zipfelmütze und erinnert ihn sofort an Zachadeus, worauf sein Blick die Karte sucht. Ja, Zachadeus trägt genau so eine Zipfelmütze und jetzt ist ihm, als grient der und zieht eine Augenbraue hoch. Ob er noch nicht ganz bei sich ist? Noch nicht ganz munter? Immerhin, die Grippe machte ihm ganz schön zu schaffen.

Schlagartig erinnert sich Joachim an seinen Traum, überlegt – aber nur kurz – und erhebt sich vom Sofa. Ihm ist gerade aufgefallen, wie ähnlich sich der Kobold Zachadeus und sein Nachbar, der alte Zacharias, sehen. Und der hatte ihm doch das Buch gegeben, das ihn so aufgeregt und gleichzeitig fasziniert hat.

Er wird jetzt in die Wanne steigen und dann nach einem stärkenden Frühstück und einem richtig guten Kaffee Zacharias fragen, ob er mit ihm ein wenig hinausgehen will. So ein bisschen vor die Stadt, wo die Wiesen beginnen, und plaudern könnten sie, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, und lachen dabei, so, wie sie es neuerdings immer mal wieder zusammen taten. Vielleicht finden sie auch nochmal ein Kornfeld mit diesen merkwürdigen aber wunderschönen Figuren darin…

Und wer weiß, vielleicht würde bald auch wieder Elisa-Beth dabei sein.

***

2010