Fadenscheinig

Wenn er in Muße hier draußen sitzt, schweifen seine Blicke auch immer mal zu den Fähnchen über ihm. Vor zwei Sommern hat er sie aufgehängt, die kleine Leine mit tibetischen Gebetsfahnen am Dach befestigt. Nicht, dass er Buddhist wäre. Auch weiß er die aufgedruckten Gebete und Symbole nicht zu deuten, aber das bunte Flattern dieser Fahnen hat ihn schon immer inspiriert. Vielleicht war auch ein wenig Fernweh der Auslöser.

Heute nimmt er wahr, dass sich so langsam die Fäden zu lösen beginnen, ganz schön ausgefranst sind manche der bunten Stofffetzen inzwischen. Faden um Faden trennt sich mit der Zeit vom gewebten Stoff und der Wind trägt sie davon, begleitet auf ihrer luftigen Reise vom messingzarten Klingen der kleinen Glöckchen, die er gleich nebenan befestigt hat.

Was geschieht mit diesen entschwindenden Fäden? Wo wehen sie hin und was wird aus ihnen? Vielleicht freut sich im Frühjahr ein Vogelpaar an einem grünen und webt ihn in sein Nest ein? Oder eine Mäusefamilie kuschelt sich mit den roten und blauen in ihre damit ausgepolsterte kleine Erdhöhle? 

Vielleicht treffen die bunten Fädchen auch auf Ihresgleichen dort draußen in luftiger Höhe, stellen eine Verknüpfung her und erzählen sich von ihren heimatlichen Kulturen? Bilden so eine Art Himmelspost, die Nachrichten mittels Windflügel auf umweltfreundliche Weise transportiert. 

Manchmal schickt er Gedanken oder ein stilles Gebet zu den Fähnchen hinauf und mit den Fäden gehen sie dann wohl auf die Reise in die weite Welt. Mögen sie eine Lösung oder die Erfüllung seiner Wünsche in die Wege leiten. Seine Erfahrung sagt, sie scheinen durchaus dazu beizutragen.

Gestern hatte er zwei, ausgerechnet gelbe, um die Sonnenblume geschlungen entdeckt. Sie sind ja nicht sehr weit gekommen, haben sich anscheinend von der goldgelben Schönheit anziehen lassen wie sonst die Schmetterlinge und darüber ihre Reise vergessen.

Wahrscheinlich gefällt es den Fädchen auch, sich an Vogelschwingen zu heften und die ganz mutigen unter ihnen lassen sich über die Alpen in ferne Länder tragen. Und ob die weißen wohl den Nordwind bevorzugen, um den arktischen Schneefeldern näher zu kommen, sich im endlosen weiten Weiß aufzulösen und in die Ewigkeit einzugehen? Sozusagen unter Gleichgesinnten, die der Farbigkeit nicht bedürfen.

Letztens hat er einige an die Hausmauer geschmiegt entdeckt. Sie waren wahrscheinlich zu ängstlich oder auch zu schwermütig, um sich aufschwingen zu können. Oder es sind besonders bodenständige Exemplare.

Manche der gelben mögen sich wohl auch auf blondes Kinderhaar setzen in der hoffnungsvollen Annahme, Verwandte gefunden zu haben.

Irgendwann werden sie alle davongeflogen sein und die Leine kahl und schlaff unter dem Dach hängen. Das kann noch eine Weile dauern und vielleicht hat er sich bis dahin seinen Traum von der Himalajareise erfüllen können. 

Dann wird eine neue, diesmal in seinem Rucksack weit gereiste Fähnchenreihe unter dem Dach wehen und deren Fäden, begleitet vom leisen Klingeln der Glöckchen, bei ihrer Rückkehr in die Welt von seinen Erfahrungen erzählen …

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2010