Heimgehen

Wenn ich nachts in den schwach beleuchteten Gängen unterwegs bin, von Zimmer zu Zimmer gehe, auf Atemzüge lausche und Ausschau halte nach dem leichten Heben und Senken der Bettdecken, dann beschleicht mich hin und wieder das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass sich diese Nächte so ähnlich sind, dass ich in der siebenten kaum noch sagen kann, was in der dritten oder fünften vorgefallen ist. 

Vierundzwanzig Zimmer. Vierundzwanzig Türen öffnen, dreimal in jeder Nacht. Sieben Nächte hintereinander. Wie Kalendertürchen öffnen ist es, nur dass es zusammengenommen fünfhundertundvier sind. Beim leisen Herunterdrücken der Klinke weiß ich nie, was mich erwartet. Sehr wahrscheinlich nichts Besonderes. Meistens ist alles ruhig. Und auch Schnarchen gehört in diese Kategorie.

Manchmal ist zuvor ein Sensor angesprungen, der mir auf dem Telefon meldet, wenn jemand aufzustehen versucht, dem Schlaf besser tun würde, als durch die Gänge zu wandern und zu stürzen. Oft ist nur die Decke verrutscht und ein Zipfel auf dem Boden gelandet. Der Sensor unterscheidet nicht. 

Auch Lászlós Zimmer ist mit diesem Meldesystem ausgestattet. In letzter Zeit war es zumeist das rote Licht über seiner Tür, das mich rief, die Klinke zu drücken und nachzusehen, was es diesmal ist. So ruhig, wie er sich tagsüber benahm, oft im Sessel am Fenster zu sitzen und abwesend vor sich hin zu starren, so unruhig verhielt er sich des Nachts. Dann wankte er mir entgegen, bleich und hochgewachsen, abgemagert und mit vorgestreckter Hand, auf das Licht zu, das vom Flur hereinfiel.

Wie die Motte zum Licht, wie der Tod auf Latschen – ging mir durch den Sinn, und ich nahm dann seine Hand, murmelte etwas Beruhigendes und führte ihn Schritt für Schritt zurück, schaltete die Nachttischlampe ein. Er ließ sich zurück aufs Bett fallen. „Heim,“ sagte László, „ich will heim.“ Durchdringend schaute er mich dabei an, nannte mich oft mit den Namen seiner Töchter und Enkelinnen. Anna, Viktória, Zsófia, Dóra, Alexandra… dann folgten mitunter ungarische Worte, Sätze, die ich nicht verstand. Schließlich fielen ihm die Augen zu und er schlief wieder ein. Es war oft derselbe Ablauf.

Auch in der letzten Woche war es das Zimmer 07, wie mir das Display des Nachtwachetelefons anzeigte, das zum Nachschauen aufforderte. Lászlós Zimmer. Unterwegs lief mir noch Herrmann über den Weg, der den Rückweg in sein Zimmer vergessen hatte. Schnell war er zurückgeführt und ich wandte mich dem roten Licht der 07 zu. Doch als ich ins Zimmer spähte, war niemand zu sehen. Ein Lichtschimmer aus dem Bad jedoch verriet mir, wohin László verschwunden war. Dort fand ich ihn, angestrengt starrte er in den Spiegel. 

Als ich hinter ihn trat, nickte er und meinte: „Schau, der da hat einen Engel gefunden, der ihn mitnimmt. Ich will auch heim!“ Er wandte sich ab, schüttelte den Kopf, starrte mich wieder einmal eindringlich an, lächelte und nahm meine Hand. Und so gingen wir zurück zum Bett. Erschöpft war er und sehr krank. Und doch trieb ihn etwas an, aufzustehen, voranzugehen. Nur er wußte, wohin.

Vorsichtig erhob ich mich, ließ die kleine Lampe brennen. Leise schloss ich die Tür. Die Klinke noch in der Hand, hielt ich inne. Ich wusste plötzlich, dass László nicht an den Ort seiner Kindheit zurück will, seine Heimat Ungarn, und auch, dass er jetzt nicht heim zu seiner Familie möchte. Es zog ihn an einen anderen Ort, zu einer noch älteren Heimat. 

Wieder einmal sprang der Sensor an. Zimmer 07. Die kleine Nachttischlampe leuchtete nicht. László wird sie wohl ausgemacht haben. Auslöser war nur die Bettdecke, die herunterhing. Als ich sie aufhob und vorsichtig über den alten Mann legte, griff er nach meinen Handgelenken. Mühsam hob er den Kopf, sein Blick war klar. „Kommst du mit?“ fragte László, „Komm doch mit heim!“. 

Ich ließ mich auf die Bettkante sinken. Im Halbdunkel des Zimmers wirkten seine Gesichtszüge jünger, fast schelmisch grinste er mich an. „Ich komme nach,“ sagte ich, „Hab noch etwas zu erledigen, das hier auf mich wartet, László. Du kannst doch schon mal vorausgehen. Was meinst du?“ Langsam entspannte er sich, murmelte noch ein leises „Gut. Bis später.“ Die restliche Nachtzeit blieb alles ruhig.

László habe ich nicht wiedergesehen. Als ich nach meinen freien Tagen zum Dienstantritt ins Büro komme, erfahre ich bei der Übergabebesprechung, dass er in der letzten Woche gestorben, in seinem Sessel sitzend friedlich eingeschlafen ist, nachmittags, nach dem Besuch seiner Familie. Diese Art Überraschung gibt es also nicht nur nachts.

An der Pinnwand im Büro entdecke ich die Todesanzeige, die die Angehörigen üblicherweise auch an uns senden. Es ist von hohem Alter und Erlösung die Rede, von tiefer Trauer und  Dankbarkeit und von Begleitung auf dem Heimgang. 

Heute ist es sehr ruhig auf der Station. Auf dem Flur unterwegs, gehe ich an der 07 vorbei. Ein neuer Bewohner ist noch nicht eingezogen, also… Gegen Morgen aber öffne ich doch diese Zimmertür, setze mich für einen Moment auf die Bettkante. Kommst du mit, höre ich László sagen. Noch nicht, denke ich. Aber wer weiß schon, wann es an der Zeit ist. Und wie es geschieht, das Mitkommen, das Heimgehen. Ob es ein Müssen oder ein Wollen sein wird. Ob es einem bestimmt ist, plötzlich aufbrechen zu müssen, oder ob man darauf warten muss, endlich gehen zu dürfen.

László hatte oft darum gebeten, er wollte heimgehen und ich hoffe, er hat einen – seinen – Weg dahin gefunden und, dass er gut angekommen ist. Dort, in unser aller Heimat.

***

2018