Herzrot

Die goldenen Strahlen der Abendsonne streichen langsam, ganz langsam über den Fußboden und erreichen jetzt den kleinen Stapel dicken Papiers, den Henry vor sich liegen hat. Er fährt sich mit der Hand in den verspannten Nacken und streckt den Hals. Das warme Licht macht es auch nicht besser…, denkt er und legt entmutigt den Pinsel beiseite. Die Aufgabe schien so einfach zu sein, doch jetzt stellt sich heraus: Je länger er damit beschäftigt ist, umso unzufriedener ist er mit den ersten Versuchen.

Rot hat sich Sina ausgesucht, etwas Rotes wünscht sie sich von ihm zum Geburtstag, etwas Gemaltes, denn seine Bilder gefallen ihr. Rot, denkt Henry, wie kitschig. Typisch Frau halt. Er selbst bevorzugt gebrochene Farbtöne, nichts Grelles. Hell und dunkel sind ihm Kontrast genug. Rot dagegen ist laut, superlaut. Es schreit schon aus dem kleinen Tiegel zu ihm auf. Und schwierig ist es auch, geradezu widerspenstig. Denn mischt er es mit Weiß wird es zu Babyrosa. Ein Kerl wie er weigert sich, Rosa zu verwenden. Wie sieht das denn aus? Da kann er seinen Namen ja niemals drunter setzen! Und mischt er es mit Schwarz ab, dann wird es einfach nur hässlich, schmutzig, wie geronnenes Blut und sieht regelrecht krank aus. Also was jetzt?

Dabei will er unbedingt, dass sein Bild Sina gefällt. Es liegt ihm viel an ihr. Hat er das eben wirklich gedacht? Ja, ihm liegt etwas an ihr. Liebt er sie? Nee, naja, vielleicht. Es ist noch zu früh, er kann es noch nicht so genau sagen. Henry überlegt und zählt an den Fingern ab, wie lange sie sich inzwischen kennen. Sind es jetzt fünf Wochen? Oder doch sechs? Obwohl – kennen… Nach so kurzer Zeit kennt man den anderen noch nicht wirklich, oder? Man fragt, hört sich seine Geschichten an, erforscht mit den Augen alles Sichtbare. Aber kennen? Wohl kaum. Will er sie wirklich kennen lernen? JA! Warum eigentlich? Schön ist sie, sagt er sich. Und so anders als er. Sie malt gern mit Worten Bilder, wo er lieber zu Stift und Pinsel greift. Reden, das ist nicht so sein Ding.

Liebe, hat Sina gesagt, braucht Zeit, um zu wachsen. Und einen guten Boden, wie jede Pflanze, die gedeihen soll. Der Boden ist Vertrauen, meint sie. Vertrauen, gut und schön, – Henry denkt an seine bitteren Erfahrungen zurück. Nach der letzten großen hat er nur dunkle Bilder malen können. All seine Enttäuschung hat er darin ausgebreitet in Schwarz und Grau, Schwefelgelb und Fahlblau. Düstere Landschaften, finstere Gegenden, totenstill war es darin. Hätte Streuner, sein kleiner Kater, ihn damals nicht mit geradezu unablässiger Aufmerksamkeit überschüttet, wer weiß, wie lange er sich noch versteckt hätte vor der Welt mit ihrem aufdringlichen Frühling, den lockenden Pastelltönen, betörenden Blütendüften. Sein kleiner Gefährte hat ihn wieder hinausgelockt, in den Park und auf die Wiese, wo er dann Sina begegnete. Wie eine Elfe war sie aus dem hohen Gras auftaucht, in dem sie gelegen hatte. Erst das helle Haar, dann ihre dunklen fragenden Augen und dann auch der ganze wundervolle Rest von ihr. So haben sie sich kennen gelernt. 

Ein rotes langes Kleid hat sie getragen, sehr ungewöhnlich, und sie lachte, als sie sein erschrockenes Gesicht sah, weil er sich unbeabsichtigt zu dicht in ihre Nähe setzte. Erst fühlte er sich ausgelacht, dann angelacht und es dauerte eine Weile, bis er endlich mitlachen konnte. Das hat sich wirklich richtig gut angefühlt. Henry hatte so lange nicht mehr gelacht. 

Ihm wird warm bei dieser Erinnerung. Ja, doch, denkt Henry: Mir ist warm ums Herz. Oh Gott, jetzt erwischt es mich wohl doch noch, die reinste Kitschattacke ist das. Und das mit fünfundfünfzig. 

Henrys Blick findet wieder das leere Blatt vor ihm. Ein roter Farbkleks ist auf den linken unteren Rand geraten. Wahrscheinlich hatte er noch Farbe an den Händen, als er das Papier mit seiner letzten Skizze ungeduldig abriss und beiseite legte. Er zieht die Stirn kraus, überlegt, ob er ein neues Blatt nehmen sollte oder aus dem Fleck noch irgendwas Gescheites machen kann. Die lichten Sonnenstrahlen wandern jetzt über den kleinen Tiegel vor ihm und die Farbe darin beginnt zu leuchten, ganz warm und durch die Nässe lebendig wirkend, ja, die feuchte Oberfläche scheint sich fast zu bewegen. Wie ein Herz das schlägt, denkt Henry, unregelmäßig zwar, aber doch lebendig. Erstaunlich!

Seine Finger wandern suchend über den Boden und greifen nach dem Pinsel, dann taucht Henry ihn ins Wasserglas, streicht die Farbe aufnehmend über das leuchtende Rot, und wie von selbst malt er aus dem kleinen Fleck ein ebenso kleines Herz. Uuiih, ein Herzchen, Herzilein, bist so klein, fein und rein. 

Streuner reibt sein Köpfchen an Henrys Knie und selbstvergessen beginnt er den Kater zu kraulen. Wahrscheinlich, so kommt es ihm in den Sinn, ist Streuners Herz gerade mal so groß – oder klein -, wie das Herzchen, das eben unter seinem Pinsel entstanden ist. Und mit einem Mal sieht er es mit anderen Augen. Die Liebe, die ihm Streuner ständig und stetig selbstlos entgegenbringt, stimmt ihn jetzt milder, und gekonnt zirkelt er ein zweites Herz neben das erste, etwas größer ist es und seine Form breiter. Denn Henry musste bei Streuners Anblick plötzlich an Bobby denken, seinen geliebten Zottelhund, der schon seit vielen Jahren nicht mehr war. Er hatte ihn fast vergessen: Bobby, sein treuer Begleiter in Kindertagen, als er bei den Großeltern aufwuchs, der ihn, den Fremden, gegen die frechen Nachbarskinder verteidigte und an den er sich hat kuscheln können, wenn ihm schwer ums Herz war.

Und Oma Elli, wie alt wäre sie jetzt eigentlich? Hundert? Einhundertzehn! Auch sie lebt lange schon nicht mehr. Er hatte seine Omi geliebt, zweifellos. Ihr ausgleichendes Wesen hatte ihn oft die rauhe Art des Großvaters leichter ertragen lassen. Jetzt war er selbst so alt wie sie damals, als er zu ihr kam nach dem schrecklichen Unfall. Sie hatte ein wirklich, wirklich großes Herz gehabt. Wieder nimmt Henry den Pinsel auf und beschwingt malt er ein richtig großes Herz hinter die beiden kleineren, eines, das nicht so glatt und rund ist wie die anderen, sondern aussieht wie eines, das viel hat leisten müssen, das Kerben von Schicksalsschlägen zeichnet und das sehr lange geschlagen hat.

Wie wohl mein Herz aussieht?, fragt sich Henry beklommen. Es hat nicht viel geliebt, wird ihm bewusst. Ist es überhaupt rot? Oder doch eher von einem ausgeblichenen undefinierbaren Ton irgendwo zwischen Weinrot und Dunkelgrau? Es muss einmal geleuchtet haben, damals, als er sich in den alten Baum verliebte, der ganz hinten im Garten stand, in dessen Krone er sich so verborgen vor der lauten Welt und geborgen und gut aufgehoben fühlte, wann immer er darin Zuflucht suchte. Im letzten Jahr hatten ihn die Nachbarn gefällt. Er nehme die Aussicht, wurde ihm erklärt. Jetzt plötzlich tut es ihm leid um den schönen, alten Baum. Ein Kirschbaum war es gewesen. Mit Herzkirschen.

Henry malt ein weiteres Herz hinter die schon vorhandenen. Schmal wird es und etwas knorrig, dafür länglich und hochreichend bis an den Blattrand, und es hat kleine runde Flecken, Astlöchern gleich. Dann betrachtet er skeptisch das Bild. Das Rot überwiegt schon und lässt das Weiß in den Hintergrund treten. Aber es reicht noch nicht. Noch ist es kein wirklich rotes Bild. Und überhaupt – der leere Hintergrund! Noch nicht genug der Liebe, denkt Henry. Wo soll er sie nur hernehmen? Kann er Liebe einfach so aufmalen, auch wenn er sie nicht wirklich fühlt? 

Nun, dann erst an die Konturen. Er nimmt einen dünnen schwarzen Kreidestift und zeichnet kontrastvoll die Umrisse der Herzen nach, ergänzt hier und da kleine Details, nimmt dann auch weiße Kreide zuhilfe. Bei Streuners Herz erscheinen winzige gestrichelte Flächen, so, als wäre ein wenig Fell darauf gewachsen und Bobbys Herz erhält an der einen Seite Fransen, wie langes wehendes Zottelhaar. Und Oma Ellis Herz schmücken mehrere kleine Herzen, gerade so viele, wie sie Kinder und Enkel hatte. Als er alles so betrachtet, findet er jetzt, dass auch sein Großvater mit in diese Ansammlung seiner Lieben gehört. Hinter dessen Strenge wird sich wohl Trauer verborgen haben, glaubt er jetzt zu wissen. Er hatte den letzten großen Krieg noch miterlebt. Und wer um etwas trauert, muss etwas geliebt haben. Großvaters Herz entsteht unter weiteren Pinselstrichen, sieht oben etwas ausgetrocknet aus und unten finden sich einige Tropfen darauf, wenn er genau hinsieht. Es scheint Henry, als habe der Pinsel ohne sein bewusstes Zutun gemalt. Seltsam. 

Und wieder taucht er ein in das leuchtende Rot, zeichnet die Kontur eines weiteren Herzens, größer als die bisherigen. Richtig warm ist ihm nun, und dass das nicht nur an den letzten Strahlen der Abendsonne liegt, kann er sich jetzt auch eingestehen. Er denkt an Sina, vermeint ihr Lachen zu hören und ihre Hände auf seinen zu spüren. Wärmer sind sie als seine und dieses Warme breitet sich in ihm aus, erreicht sein Herz, lässt die Konturen des aus dem Pinsel fließenden Herzens weiter werden, immer weiter. Es wächst bis an den Rand und dann darüber hinaus, bedeckt schließlich den gesamten Hintergrund. 

Als Henry endlich innehält, schaut er auf ein intensiv rotes Bild. Gar nicht kitschig, findet er, dafür Wärme ausstrahlend, leuchtend und detailreich, liebevoll gemalt – von ihm! Überall gibt es darauf etwas zu entdecken. Man kann es lange betrachten. Rot herrscht vor, ein friedvolles Rot. Zufrieden lehnt er es an die Wand. Henry stellt, je länger er es nun betrachtet, verblüfft fest, dass er es liebt, dieses Bild. Es sagt viel aus über ihn. Nicht nur, dass er es gemalt hat, sondern auch, was er fühlt. Ein Bild gewordenes Gefühl. Wer hätte gedacht, dass ihm soetwas je gelingen und auch noch gefallen könnte? 

Aber ja, natürlich, fühlt er jetzt: Es ist ja auch nicht einfach nur rot. Nein, es ist weit mehr: Herzrot. Denn es kommt von Herzen.

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2014