In der Stille der Nacht

Weihnachten und Geschenke, das gehört irgendwie zusammen, nicht wahr? So wie Skifahren und Schnee, Glühwein und Kälte, die Weihnachtsgans und der festlich gedeckte Tisch. Und was wäre der Weihnachtsmann ohne seinen Sack voller… eben. Nur ein alter, weißbärtiger Mann im roten Mantel.

Manchmal jedoch kommt alles anders, als man denkt oder es gewohnt ist. Dann darf man eine neue Erfahrung machen. Auch wenn man gar nicht will oder darauf vorbereitet ist. Nun, mir erging es eines Weihnachtens so:

Vor nicht allzu langer Zeit, als in jenem Jahr der erste Advent wieder nahte, begann ich zu ahnen, dass das kommende Weihnachtsfest sich unterscheiden würde von allen bisherigen. Mit einer großen Familie gesegnet, herrschte sonst immer Trubel zum Jahresende hin, Besuche fanden statt, es wurde gebacken, was die Küche hergab und die Stuben geschmückt, bis kein freies Eckchen mehr vorhanden war.

Als erste meldeten sich meine Töchter ab, sie würden den Heiligen Abend bei ihrem jeweiligen Freund verbringen. Nun, mit 25 und 27 Jahren ist es doch normal, dass die Kinder auch an hohen Feiertagen mal nicht nach Hause kommen. Lass los, sagte ich mir.

Dann verkündete meine Mutter, dass sie das Fest bei meinem Bruder verbringen werde, an der Ostseeküste, da sei es immer so heimelig unterm Reetdach. Schön, meinte ich dazu, auch gut. Und dachte, dann werde ich weniger zu tun haben, weniger auf Sonderwünsche eingehen müssen, wie das Fenster zumachen, weil es wieder zieht oder der Braten unbedingt mit Orangen versehen werden muss. Ich spürte doch tatsächlich ein wenig Erleichterung, gestand ich mir ein.

Mein Sohn meinte dann, da er das Geld für seine geplante Japanreise jetzt beisammen habe, wolle er gerne ein Sonderangebot nutzen und nach Asien fliegen über die Feiertage. Ob das okay für mich wäre, alle anderen würden ja da sein. Ich nickte still vor mich hin und dachte mal wieder, dass die Familienkommunikation immer noch zu wünschen übrig lasse. Klar sagte ich, alles gut und dir gute Reise.

Wir sahen uns alle am dritten Advent, in trauter Runde um den Kranz versammelt. Inzwischen war auch dem letzten klar geworden, dass ich Weihnachten allein verbringen würde. Geflissentlich wurde das Thema umgangen und jeder sprach davon, wie sehr er sich darauf freue, dann genau dort zu sein, wo er am liebsten sein wolle. Dass ich etwas stiller war als sonst, ging im Hin und Her der Unterhaltung buchstäblich: unter.

In den Tagen vor Weihnachten besorgte ich dann all jene Dinge, die ich immer besorgte, Dinge, die seit jeher für mich zum Fest gehörten. Einen Baum natürlich, gutes Essen und jede Menge Kerzen. Es sollte mir an nichts fehlen. Am 24. Dezember war die Tanne schnell geschmückt, das Essen vorbereitet und ich beschloss, noch einen Spaziergang zu machen. Und so zog ich mich warm an, denn es war ein frostiger, wenn auch klarer Tag.

Im Wald empfing mich fern vom Alltagslärm der wohlbekannte Frieden, den ich so liebte, dass es mich oft hierher zog, wann immer mir das Leben zu laut und zu bunt wurde. Die matten Farben des Winterwaldes und das leise Zwitschern der Waldvögel taten mir einfach gut. Nur von ferne tönten gedämpft die Kirchenglocken des nahen Dorfes herüber. Das Glockenspiel sandte ein „Stille Nacht, heilige Nacht“ hinaus in die langsam einsetzende Dämmerung.

Wie ich so ging und mich wieder nach Hause wandte, erinnerte ich mich an so manche Weihnacht, die ich im Kreise meiner Familie verbracht hatte. Kleinigkeiten fielen mir ein, die damals mittlere Katastrophen waren und die heute gerne als Anekdote im Familienkreis zum Besten gegeben werden. Nun wurde mir doch ein wenig wehmütig ums Herz. Es war Weihnachten, der Heilige Abend und noch nie, in all den Jahren nicht, war ich zu dieser Zeit allein gewesen. Ganz allein. 

Wieder in meiner heimeligen Wohnung angelangt, hängte ich meinen Mantel auf, zog die Stiefel aus und freute mich an der Wärme und dem Tannennadelduft, die mich umgaben. Doch plötzlich fand ich mich weinend auf dem Sofa wieder. Allein zu Weihnachten, dem Fest der Familie. Niemand da, nur ich. Nur ich, das war alles, was blieb. Ich könnte Musik hören, einen schönen Film sehen fiel mir ein. Doch das war es nicht, was fehlte, genauer: was mir fehlte. 

Die Tränen flossen, der ein oder andere Seufzer mischte sich hinein und so ging es eine ganze Weile lang. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Was ist nur los mit mir, fragte ich mich ein ums andere Mal. Es geht mir doch gut! Eigentlich. Fragen tauchten auf: Wer bin ich eigentlich? … ohne meine Familie? Wer kennt mich? So, wie nur ich mich kenne? Wer weiß alles von mir, auch das nicht so Schöne, Tüchtige, Kluge? Wo gehöre ich hin? Ich kam mir so verloren vor.

Ich bin nicht christlich, fand also keinen Trost im Glauben. Das Weihnachtsfest ist ein Familienfest, so hatten wir es immer gehalten. Für Glaubensdinge war da kein Raum gewesen. Manchmal gingen wir in die Kirche, der Stimmung wegen, und nur zu Weihnachten.

Mir wurde es zu eng in der Stube und mit einer warmen Decke um die Schultern trat ich hinaus in den Garten. Die Nacht war sternenklar. Und still. Stille Nacht. Wie friedlich es hier draußen war. Ich ging noch ein paar Schritte hinaus aufs Feld und setzte mich auf einen Findling. Hier hatte ich auch im Sommer hin und wieder verweilt und die Gedanken schweifen lassen. Einer davon war, dass ich mich oft fragte, wie lange dieser Stein schon hier lag und wie alt er wohl wäre. Vielleicht älter als die Erde. Vom Anbeginn der Zeit. Und immer noch hier.

Zeit ist etwas Seltsames. Ich kam mir plötzlich steinalt vor und so, als würde ich schon ewig hier sitzen, hier sein. Hier? Wo ist hier? Die Erde, das Weltall… überall. Ich bin… 

Ich bin… Den Satz konnte ich nicht beenden. Kein Wort schien passend zu sein. Die Sterne funkelten. Die winzigen Lichter in der Dunkelheit gaben dieser stillen Nacht etwas Unnennbares, etwas Heiliges.

Ich bin. Vielleicht reicht das ja auch. In diesen Gedanken vertieft, den Blick ins Sternenlicht getaucht, saß ich noch eine ganze Weile dort.

Dann begann ich doch die Kälte der Winternacht zu spüren, erhob mich rasch und war recht froh, alsbald die Wärme des Zimmers wieder um mich zu fühlen. Aufmerksam sah ich mich um. Leicht war mir zumute. Schön war es hier, so mit mir. Und ich weiß noch, wie ich dachte: Da muss ich also erst von allen verlassen werden, bevor ich verstehe, dass ich nicht verlassen bin. Niemals. Weil ich bin. Und war. Und sein werde. 

Ich danke meinen Kindern für dieses wunderbare Geschenk des Alleinelassens und werde es auch ihnen, bei Gelegenheit, schenken.

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2016