Koffer packen

In einer Stunde muss ich los. Nein, stimmt nicht. Ich will los. Die Gedanken wechseln die Meinung wie ein Chamäleon die Farbe und überlassen dann doch das Machtwort dem Bauch. Typisch, kein Verlass auf die Bande. Was wollte ich noch gleich? 

Einpacken. Eine Tasche suchen. Seit dem letzten Umzug liegt vieles irgendwo, nur nicht da wo ich es vermute. Mit fällt ein, dass ich einen kleinen roten Koffer habe. Der würde jetzt passen. Lackrot und ein bisschen nuttig aussehend und doch auch wieder unschuldig schneewittchenhaft mit den schwarzen Riemen und silberweißen Schnallen auf dem glänzenden Rot. Gerade richtig. Vielleicht werde ich ja auch ins Leben zurück geküsst, dort, wo ich hin will.

Ganz hinten leuchtet es rot unter Stapeln anderen Zeugs. Ja, da ist er. Fast so klein wie ein Puppenkoffer, handlich, praktisch, gut. Nagelneu und nie benutzt. Aus einer Laune heraus gekauft in Zeiten, als Geld keine Rolle spielte. Jetzt, da ich mit weit weniger auskomme, spielt es ebenfalls keine große Rolle. Meine Prioritäten haben sich verschoben.

Packen. Was brauche ich denn? Zahnbürste, Haarbürste, Schminkzeug. Wirklich? JA! Wäsche. Nein. Doch. Für den nächsten Tag. Ein Tag und eine Nacht. Auf und davon. Ich schaue aus dem Fenster. Die Nebelfee hat Waschtag. Stimmt nicht, ruft die Sonne aus dem anderen Zimmer. Heut wird gestrahlt. Mir scheint, mein sinnliches Lächeln strahlt mit ihr um die Wette. Es huscht mir schon den ganzen Tag immer wieder über das Gesicht. Läuft über, tropft tiefer, breitet sich aus und endet als Kribbeln in weichen Knien.

Seine Einladung kam so spontan und rannte meine Prinzipien über den Haufen. Jetzt erlaube ich mir was. Was erlaubst du dir eigentlich – ein entrüsteter Spruch aus vergangenen Zeiten, der nicht mehr gilt. Einen Tag und eine Nacht werde ich fort sein. Entlassen. So ein kleines Köfferchen haben doch im Film immer jene, hinter denen sich die Knasttür schließt. Die in die Freiheit entlassen werden. Nun, vielleicht nicht eines in so lebendigem Rot. 

Und mein Gefängnis ist ein inneres, wohlgemerkt. In langen Jahren selbst gebaut. Ich habe mich entlassen. Also auf! Und gekostet von der Freiheit. Sie kostet mich nur die Entscheidung für sie. Ich muss niemanden um Erlaubnis fragen.

Einpacken. Was noch? Ein Buch. Immer habe ich eines dabei, es könnte ja sein, dass … Quatsch, diesmal nicht. Ich werde keine Zeit dafür haben. Da stehen eh nur Gedanken über das Leben drin, nie das Leben selbst. Und heute will ich selbst leben. Erleben, mich beleben. Eine Blutspende in lackrot an der Hand. Die Injektion wird ein starker Samariter setzen.

Was noch? Zigaretten, Feuerzeug. Wirklich? Ja, die Aufregung. Du wolltest doch nicht mehr … Halt die Klappe, Verstand. Aber es ist der Bauch, der meckert, und die anderen in mir stimmen mit ein. Also raus damit. Alles pur erleben, nicht ablenken, nichts überdecken mit Verlegenheitsgesten. Die Hände frei haben, auch wenn sie zitterig sind. 

Mein Verstand tillt und ficht mit den Gefühlen einen aussichtslosen Kampf. Schiebt mir angebliche Wichtigkeiten ins Bewusstsein. Plasmodium palcifarum. Ein letztes Geschütz wird aufgefahren. Mein Studium ruft ungefragt dazwischen und droht, mich mit Lernstoffen außer Gefecht zu setzen. Malaria. Male area. Männliches Gebiet. Weibliche Anopheles. Der Stich saß. Ich fühle mich infiziert. Aber der Noro-Virus ist der eigentliche Auslöser der Krankheit, die mich seit Tagen befallen hat. Jede Impfung kommt zu spät.

Fieberheiß ist mir. Zig Mal auf dem Klo gewesen. Keinen Appetit. Mein Bauch meint, eine Mahlzeit mit Schmetterlingen nicht zu vertragen. Zu ungewohnt. Zu lange her. Schmetterlinge mit Namen Noro. Gattung männlich. Eingefangen an einem Ort, den viele entrüstet und uneingestanden neidisch als Sündenpfuhl, bestenfalls als durchgeknallt bezeichnen. Inkubationszeit zwei Stunden. Ich fühle wieder dieses Lächeln über mein Gesicht huschen und auf meine Nase springen. Kribbeln. Ein gutes Symptom. Kein Notarzt nötig. Dafür gute Behandlungschancen. 

Doch genesen möchte ich so schnell noch nicht.

Vom Zimmer zum Flur zum Bad gehe ich und weiß nicht so recht, was ich noch brauchen werde. Stolpere über meinen Kater und blicke in große unwirsche Augen. Du Bester! Bis morgen, schnurre ich. Nein, du kannst nicht mit. Das wilde unbekannte Tier in mir spricht still mit ihm. Seine Lider senken sich. Er versteht. Auch, dass ich gehen muss. 

Noch mal auf dem Balkon nachsehen, Blumen gießen, es wird heiß. Die nette alte Muslimin von nebenan winkt und lächelt unter ihrem Kopftuch. Wenn die wüsste. Vielleicht weiß sie ja. Orientalische Frauen sind für manches berühmt, was ich hochgewachsene Europäerin nie so geschmeidig zeigen könnte.

Der Klamauk in meinem Kopf wird mir zu viel. HALT! Meine gaukelnden Gedanken prallen Halt suchend aufeinander und halten endlich mal die Luft an. Nun kann ich tief ausatmen. Und prompt stiehlt sich wieder dieses verrückte Grinsen in mein Gesicht. Vorfreude. Vor Freude. Herzklopfen. Hand auf´s Herz.

Ich lerne Nein zu sagen über Nacht. Nein, zu allen Klischees, die mir einreden wollen: Das tut man nicht. In deinem Alter. Mein Bauch sagt: Endlich. Höchste Zeit. Hochzeit ist deshalb noch lange nicht. Aber Jungfernfahrt in die große Stadt, die mich sonst nur als Studentin kennt. Diesmal komme ich als Touristin. On Tour und ohne Entourage.

Schlüssel, Geld, Ausweis in die Jacke. Handy. Warme Socken in den Koffer. Bei diesen warmen Gedanken kriege ich garantiert keine kalten Füße. Ich laufe nicht mehr davon. Ich will reicher werden. An Erfahrungen. Nach einem halben Jahrhundert sind es viel zu wenige. Und viel zu viele verpasste Gelegenheiten. Diesmal sehe ich an, was der Zufall mir vor die Nase setzt. Jetzt ist er mir zugefallen. Eins kommt zum anderen. Einer zur anderen. Zufällig auffällig.

Jetzt gehe ich. Jacke an, Schuhe an. Katzen: Tschüs! Tür zu, Treppen überfliegend hinaus in die Sonne. Ein neuer Tag. Eine neue Nacht. Keine Gedanken mehr. Keine Erwartungen. Kaum Wünsche. Frei bin ich. Frei will ich bleiben.

Den Koffer habe ich glatt vergessen. Er ist auf meinem Bett liegen geblieben. Schmollend. Rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz und weiß wie Schnee. Schneewittchen wird wachgeküsst, auch ohne ihn. Vielleicht auf dieser Reise. Vielleicht auf einer anderen. 

Ich weiß, ich brauche keinen Koffer auf dieser Reise. Hübsch ist er, aber überflüssig wie ängstliche Gedanken. Alles was ich wirklich brauchen werde, ist längst schon da und in mir.

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2010