Die Wärme des nächtlichen Feuers trocknet langsam die Tränenspuren auf ihrem an Falten reichen Gesicht. Sie hat gelebt – lange, und das Leben hat seine Spuren hinterlassen. Larynjes Hand, die eben noch ihr Kinn stützte als sie tief versunken in die Flammen sah, sinkt jetzt herab und das leichte Beben ihrer Schultern unter dem Fellumhang lässt endlich nach.
Auch diese Nacht unter vertrauten Himmeln neigt sich ihrem Ende zu. Ein zarter heller Streifen im Osten zeichnet den Beginn eines neuen Tages, der, wie all die vergangenen, ein langer und sommerlich warmer werden wird. Der Wind hat sich längst gelegt. Die Geister ruhen aus, haben ihr heute nichts mehr zu sagen.
Ihr Blick wandert zu der niedrigen Felsenplatte seitlich von ihr. »Jelaryn – geliebter Gefährte, bald werde ich dir folgen.« Wie grüßend winken die Feder- und Fellbüschel an den Lederbändern, die sie ihm zum Abschied an die Haselgerten gebunden hat. Ihr ist, als blinkt auch sein ebenfalls dort hängendes Jagdmesser einen letzten Gruß. Jelaryns Augen werden den neuen Morgen nicht mehr schauen, seine Seele ist schon unterwegs in die anderen Welten und wird weit mehr Dinge sehen, als Larynje sich vorzustellen wagt.
Sie stochert ein wenig in der Glut, nährt das Feuer ein letztes Mal mit den zusammengesuchten trockenen Zweigen und legt dann den Eibenstab mit dem geschnitzten Schlangenkopf beiseite. In dieser frühen Stunde zwischen Tag und Nacht wandern ihre Gedanken zurück in Zeit ihrer frühen Winter und sie erinnert sich, wie sie ihren geliebten Gefährten das erste Mal verlor.
Damals war der Schmerz über seinen Verlust lange Zeit ihr steter Begleiter geblieben. Heute, nachdem sie Jelaryn auf die Felle bettete, ihm die Augen schloss und seinen Lebensstein an sich nahm, schmerzt sie sein Gehen auf andere Art. Sie weiß um das unvermeidliche Ende eines jeden Menschenlebens und auch um den folgenden neuen Anfang. Sie hat ihren Frieden gefunden. Und doch, auch wenn der Abschied nicht gar so unverhofft kam, sie trauert um ihren Gefährten, wie sie nie um einen Menschen getrauert hat.
***
Larynje sieht sich wieder am Waldrand stehen – zehn Winter ist sie alt, oder zwölf – und nach Jelaryn rufen. Vom Beerensammeln heimkehrend läuft sie müde und hungrig in die Siedlung mit den vertrauten flachen reetgedeckten Häusern und nimmt zu spät die unheimliche Stille wahr, die wie eine Wand zwischen den Holunderhecken und Tiergattern steht. Ihre Schritte werden langsamer und sie beginnt sich unsicher umzuschauen. Die Pferde sind fort! Und auch die Ziegen! Ihr Blick wandert zum Vorratshaus mit den gekreuzten Giebelbalken. Die weit offen stehenden Tore verheißen nichts Gutes. Nichts regt sich. Keine Menschenseele ist zu sehen.
Langsam lösen sich die Siedler aus der Erstarrung, die mit jedem der lautlosen Überfälle der Steppenreiter, deren Name nur geflüstert werden darf, einhergeht. Doch niemand bemerkt, dass diesmal auch ein Kind fehlt. Zu groß ist die aufsteigende Angst vor dem nahenden Hungerwinter, jetzt, wo die Vorräte verschwunden sind. Larynje sucht ihren Gefährten überall, sie ist es, die nach ihm ruft und als die Antwort ausbleibt, immer heftiger und fordernder den Männern der Sippe am Lederkleid hängt und keine Ruhe gibt.
Erst suchen sie Jelaryn im Dorf, dann in den Wiesen, am Waldrand, unten am Fluss. Der Junge bleibt verschwunden. Seine Mütter und Väter, die Leute aus dem Eulenhaus, bitten Laranja, die weise Frau der Sippe, die Luftgeister um Rat zu fragen. Die Antwort der Ahnen lässt alle schreckensstarr verstummen. Die Suche bricht jäh ab. Es wird kein Stein am Waldrand gesetzt für die Geister der Erde, aus der alles Leben stammt, als Dank dafür, dass ihr das Leben Jelaryns zurückgegeben werden konnte, wie es sonst bei Todesfällen geschieht. Jelaryn gilt nicht als tot, aber keiner spricht mehr von ihm. Niemand will das Undenkbare denken: dass er in vielen Monden zurückkehren würde als Anführer der Steppenreiter und vergessen hätte, wer seine Ahnen sind. So jedenfalls haben es die Ahnen durch die Windgeister Laranja zugeflüstert.
Der dann folgende Winter ist der härteste, den die Sippe je erlebt hat und für gar manche war es der letzte in dieser Welt.
»Mögen die Himmelswesen sie beschützen auf ihrem Weg durch die anderen Welten, bis es für sie an der Zeit ist, wiederzukehren.« betet Larynje bei dieser Erinnerung und bläst in die Glut, damit die Funkengeister ihre Wünsche weitertragen.
Hunger ist Larynje gewohnt und als Kind ihrer frei lebenden Sippe hat sie schon einige harte Winter überlebt. Immer teilte sie mit ihrem Gefährten, der dieselben goldbraunen Augen wie sie sein eigen nennt, das letzte Stück Fladen, die allerletzten getrockneten Beeren. Es ist ihre Art auf diese Weise für die innige Zuneigung des anderen zu danken. Diese Augen sind es, die sie sich oft verbunden fühlen lassen und weswegen sie oft damit geneckt werden, vom Eulenmann im Wald abzustammen. Niemandem sonst fühlte sie sich je so nahe, außer vielleicht ihrer Großmutter Laranja, deren Augen ebenfalls diesen goldenen Glanz besitzen wie die ihren und die seinen. Großmutter ist es dann auch, die den anderen befielt, sie in Ruhe zu lassen, als Larynje beginnt, sich immer öfter zurückzuziehen. Draußen am Waldrand in der alten Eiche, von der aus sie einen weiten Blick ins Land hat, schmiegt sie sich oft in eine Höhlung und schaut selbstvergessen hinaus über das raue Land ihrer wilden Heimat.
Dort, verbunden mit dem Eichengeist, fühlt sie sich aufgehoben, geborgen und verstanden, von hier sendet sie ihre stummen Rufe mit den Windgeistern in die weite Ferne:
»Je-la-ryyyyn!«
Und manchmal vermeint sie im Wind die geflüsterte Antwort zu hören: »Ich lebe, die Steppenwesen lehren mich ihr Windwissen von magischer bannender Stille und heiligem zerstörendem Sturm. Ich bin ein Erwählter, genau wie du, Larynje. Du weißt es längst. Hab Geduld. Warte. Warte und lebe …«
Winter gehen und Sommer folgen ihnen wie seit Anbeginn der Zeit. Es wechseln ruhige mit stürmischen Zeiten, karge Winter mit Sommern voller Fülle. Der Lebensstein für die alte weise Laranja wird am Waldrand gesetzt neben die der anderen vor ihr gegangenen Sippenmitglieder.
Larynje errichtet sich eine eigene Hütte dort oben aus allem, was ihr der Wald zukommen lässt. Als Nachfahrin Laranjas achtet man ihre Eigenheiten, ihr verschlossenes Wesen und versorgt sie mit allem Notwendigen. Als Dank lässt Larynje die Rat Suchenden teilhaben an ihrem Wissen, das ihr die Windgeister zutragen.
Oft lehnt sie in ihrem Baum hoch oben, ein flaches rundes Holzbrett auf dem Schoß wiegend und die Orakelsteine ihrer Großmutter Laranja vor sich betrachtend. Viele Winter lang hatte Laranja sie darin unterwiesen, wie die Antworten der Steine zu deuten sind und Larynje war eine wissbegierige Schülerin. Nur die eine Frage, die ihr Herz am meisten bewegt, diese eine können ihr Laranjas Steine nicht beantworten: »Wo bist du, Jelaryn – meine Liebe?«
Larynje lernt auf den Wind zu lauschen, seine Lieder zu singen, seine Trommel zu schlagen und so erhebt sie sich, wann immer der Wind zum Sturm wird und bindet sich mit einem breiten Lederriemen an den Eichenstamm. Frei stehend, fliegend fast, stemmt sie ihren Körper in das Tosen, die goldenen Augen zu Schlitzen verengt stimmt sie in das Brausen der Luftgeister ein, ruft mit ihnen gemeinsam die Sturmreiter, schreit ihre Frage nach Jelaryn und ihren Schmerz den Böen zu, befielt ihnen, die Antwort zu suchen auf ihren Reisen durch die Welten.
Mit der Zeit wird Larynje respektvoll Windfrau genannt. Für die Sippe sind ihre Antworten, die sie dem Wind ablauscht, wertvoll wie das tägliche Mahl, denn Larynje erfährt von den Luftgeistern, wann Regen naht und wie viel Monde diesmal die regenreiche Zeit andauern wird. Der Wind trägt ihr den Geruch fremder Reiterhorden zu, sodass die Siedler rechtzeitig im Wald Schutz suchen können. Auch die Namen der neugeborenen Kinder werden als freudige Nachricht von den Windgeistern empfangen.
Eines Tages klettert Larynje behände von ihrem Baum herab und schreitet schneller als sonst aus. Eine wichtige Nachricht hat sie ihrer Sippe mitzuteilen. Ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihr Dorf gerichtet eilt sie über die flachen Felsen am Waldrand und tritt unversehens auf eine Schlange, die sich dort in der Sonne wärmt.
Der plötzliche Biss der Otter lässt sie zu Boden stürzen und das sich in ihr ausbreitende Schlangengift beginnt Sinne und Wahrnehmungen zu färben: Aus dem Rauschen des Windes wird gezischeltes Wispern und aus dem Funkeln des sonnendurchflirrten Laubdaches tauchen die goldgelben Augen eines Wesens auf, das ihr vage vertraut erscheint. Ihr ist, als spiegele sie sich in diesen Augen, als sähe sie sich selbst mit anderen Augen und als wird sie von diesen Augen gleichsam betrachtet, so innig, so tiefgehend bis in ihr Allerinnerstes, dass sie meint, in ein anderes Leben einzutauchen.
Auf dem Grund dieser Augen, im dunklen Goldrand um die tiefschwarze Finsternis der Mitte, sieht sie goldgelbes Steppengras sich wiegen im Wind, Pferde weiden, Reiter sich nähern und selbst immer näher kommend kann sie schon bald die Gesichter unterscheiden. Es sind kleinwüchsige Menschen mit dunklem Haar und ebensolchen Augen, bis auf einen, der hochgewachsen ausschreitet und dessen helle Augen sie kraftvoll anziehen. Da geht er, aufrecht und voller Würde ist seine Haltung, so, wie es einem Anführer gebührt, der um seine Verdienste weiß, geehrt und geachtet von seiner Sippe. Größer ist er als seine Männer und als er sich jetzt mit aufmerksamem Blick über die Schulter umwendet, blickt Larynje in seine Augen, die ihr wie goldene Sonnenfunken scheinen und ihr Herz mit Liebe erhellten. Sein Anblick treibt ihr den Namen des so lange Gesuchten auf die Lippen. Doch dann zieht von überall her Dunkelheit in ihren Blick, das Gold erlischt und Larynje fällt mit schwindenden Sinnen kopfüber in tiefe Finsternis.
Nur langsam kehrt die Kraft in ihren vom Schlangengift gezeichneten Körper zurück. Monde vergehen bis sie sich endlich von ihrem Lager erheben kann, doch Larynje ist der Schlange tief in ihrem Herzen dennoch dankbar, ist es doch das Gift gewesen, das ihr die Vision von Jelaryns Lebendigkeit zugänglich gemacht und ihr neuen Mut geschenkt hat, doch noch auf den geliebten Gefährten ihrer Kinderzeit hoffen zu dürfen. Und diese tiefe Dankbarkeit ist es auch, die sie durchströmt, als sie sich einen Stab mit Schlangenkopf zur Erinnerung an die Vision der Schlange schnitzt.
Erst als sie einige Zeit später bei einem ihrer gewohnten sinnend suchenden Ausblicke auf der alten Eiche die Fremden in der Ferne entdeckt – mehrere kleinere Reiter, die sich um einen größeren scharen -, erinnert sie sich wieder der Botschaft, die sie damals ihrer Sippe hat bringen wollen: Es würden Reiter kommen, so heißt es darin, Fremde, mit einem Frieden verheißenden Angebot. Es bereitet ihr viel Kopfzerbrechen, wie die Botschaft der Windgeister diesmal zu deuten wäre. Fremde auf Pferden sind im Allgemeinen kein gutes Zeichen, auch wenn die letzten Überfälle schon einige Winter zurückliegen. Sie hat sich drei Nächte Zeit gegeben und die Windgeister nochmals und nochmals befragt, allein – deren Antwort bleibt gleich.
Nun kommen sie also! Larynje gleitet von ihrem Platz in der Eiche und sowie ihre Füße festen Boden berühren steht auch ihr Entschluss fest: Sie wird der Sippe das Erscheinen der Fremden als etwas Freudiges, Hoffnungsvolles verheißen. Sie wird versuchen, die Männer ihrer Sippe dazu zu bewegen, die Speere und Bögen in den Hütten zu lassen und die Fremden friedvoll zu begrüßen. Tief in ihrem Herzen ist sie sich ganz und gar sicher, dass, wo immer Jelaryn zum Anführer gewählt worden ist, die Menschen das Gute, das auch sie selbst immer in ihm gesehen und gefühlt hat, ebenfalls haben spüren können und so ihm ihr Vertrauen schenken konnten.
Aufrecht steht Larynje inmitten ihrer Sippe, ihre Linke stützt sich auf den Eibenstab mit dem Schlangenkopf. Auch sie ist in der Zwischenzeit das anerkannte, geachtete und geehrte Oberhaupt ihrer Sippe geworden. Aufmerksam sieht sie den sich langsam nähernden Reitern entgegen. Neun sind es insgesamt und jetzt sieht Larynje auch die vielen Ziegen, die die Reiter mit sich führen. Der Anführer schaut unverwandt in ihre Richtung bis er in ihrer Nähe das Pferd zügelt. Sie bemerkt in seiner Rechten einen langen Stab mit – ja wirklich – einem Schlangenkopf! Auch sein Lederkleid ist auf den Schultern und an den Kanten mit Schlangenleder eingefasst. Wie seltsam, denkt Larynje, doch bevor sie noch weitere Betrachtungen anstellen kann, gleitet der Anführer aus dem Sattel und tritt auf sie zu.
Larynjes Blick folgt seinen Schritten, tastet sich an ihm hinauf und lässt sich dann von dem Gold seiner Augen tief berühren. Ein schmerzhaftes Ziehen aus den Tiefen ihres Herzens antwortet seinem liebevoll auf sie gerichteten Blick. Ja, es ist Jelaryn. Er lebt, steht vor ihr – jetzt! – und kreuzt seinen Stab mit dem ihren. Die gebogenen Schlangenköpfe zeigen zueinander und ergänzen sich, für alle sichtbar, zur Herzform – jenes uralten Symbols der Liebenden.
Lange sitzen sie an diesem und den folgenden Abenden beieinander und erzählen sich aus ihrem Leben, das von Warten, Hoffen und Bangen um das Wohlergehen des anderen durchzogen war. Jelaryn berichtet von dieser fremden Sippe, die ihn damals geraubt und aufgenommen hatte seiner goldbraunen Augen wegen, die jenen so kostbar erschienen, weil sie in ihren alten Legenden erwähnt wurden und die sie nun glaubten in ihm gefunden zu haben. Eines Tages, so hieß es bei ihnen, nach vielen Jahren der Kriege und des unsteten Lebens, fände ein Mann mit goldenen Augen zu ihnen, der die Geschicke der Sippe auf neue Art und Weise lenken würde und sie friedlichen Zeiten entgegenführen könne. Ihm sollten sie sich anvertrauen.
Nun war Jelaryn damals, als er geraubt wurde, noch ein Kind von an die zwölf Winter gewesen und eben das aber war der verborgene Schlüssel zur Wirksamkeit der alten Legenden! In dem Jungen war noch nicht die Lust am Töten erwacht, noch die an reicher Beute, auch wusste er das Teilen zu schätzen und die warme Hand einer Freundin. Die Leichtigkeit der Kinderseele wohnte noch in ihm, als die Steppenreiter ihn seiner Heimat beraubten und weil seine Seelenkraft ihn schützte, konnten weder Neid noch Eifersucht, weder Habgier noch Hass sein Handeln leiten. Er kannte all diese Gefühle sehr wohl, aber sie hatten sein Herz noch nicht vergiftet und sein Herz war es, das zu ihm sprach und durch ihn zu seiner neuen Sippe, bei der er von Anbeginn an als erwählter neuer Anführer lebte.
Und Jelaryn hat seine Ahnen niemals vergessen. Die Windgeister, mit denen er und Larynje so oft gespielt hatten, sind ihm stete Begleiter geblieben und haben ihn unterrichtet über alles, das in seiner alten Heimat geschah und so manches Mal hatte er Larynje seinen windgetragenen Gruß gesandt.
***
Das Feuer ist niedergebrannt, die Glut bedeckt sich mit dunkler werdenden Ascheresten. Larynje denkt voller Dankbarkeit an ihren Gefährten zurück. Es waren ihnen noch einige gemeinsame Jahre vergönnt inmitten ihrer großen Sippe, die unter ihrer beider Anleitung und mit Hilfe der Kraft der Wind- und Schlangengeister aufblühte und eine Gemeinschaft kraftvoller, friedliebender und freier Menschen wurde.
Larynje sieht die Morgensonne durch die Wolken brechen und ein unwirklich goldenes Licht verströmen, so warm und hell, wie sie es in so manchem Blick in Jelaryns Augen immer wieder hat finden können in all den Jahren. Ihr ist, als erreiche sie ein letzter Gruß ihres geliebten Gefährten, bevor seine Seele auf Reisen geht zu anderen Welten.
»Lebe wohl, Jelaryn!«, ruft sie in den Wind, »Und lebe fort!«
***
2011