Paralleluniversum

Endlich wieder Karten für ein Metalkonzert besorgt. Irgendwas in mir will es mal wieder laut und sich ordentlich durchschütteln lassen. Das letzte Sommerfestival ist gefühlte Jahre her, in Wirklichkeit erst 3 Monate. Die Bändchen am Handgelenk halten die Erinnerung daran latent wach. Also auf gehts ins LKA. Nein, nicht Landeskriminalamt. Longhorn irgendwas heißt die Location. Platz für maximal 500 Metalheads. 

Karten abreißen, Klamotten abklopfen lassen. Jacke an der Garderobe aus den Augen verlieren, und hinein gehts in die Halle mit den typischerweise schwarzen Wänden, nur wenige Farbflecke in allenfalls rot von den Plakaten vergangener Sessions lockern die Düsternis ein wenig auf. Und die Lichtanlage wirft streifiges Violett, Blau und Silber in die Luft.

Mein Beobachtermodus setzt ein, Blick in die Runde, vortasten zur Bar, Bier holen. 

Stehplatz mit Übersicht sichern. Und ja, ich bin bei weitem nicht die Älteste hier. Oder doch. Ältere gibt es, aber alles Männer. Oh ja, da sind sie, die Typen, bei deren Anblick mir unweigerlich der Begriff langhaarige Bombenleger einfällt. Faszinierend! Aber es scheinen weniger zu werden. Langes Haar ist wohl kein Muss mehr in der Szene. Schwarze Klamotten dagegen sehr wohl. Es lebe die dunkle Seite: Skulls, Bones und Pentagramm. Schwerter und Thors Hammer.

Endlich wird das Vorabgedudel von brachialem Basslärm überdonnert – die Vorband beginnt zu hämmern. Den Namen nie gehört. Okay, bin ja auch kein echter Insider. Und da ist es wieder, dieses Kribbeln, das die Bässe in meinem Bauch platzieren und das ausstrahlt in Arme und Beine und dann den Kopf bangen lässt. Und nicht wirklich Verwunderung darüber, dass das jedesmal wieder einfach so passiert. Und erst seit ein paar Jahren. 

Großartig, sich so durchwallen zu lassen vom Lärm, der doch irgendwie Musik ist. Ein zu zartes Wort für diesen erlesenen Krach. Gefühlte halbe Stunde Einstimmung aufs Eigentliche. Und schon wieder vorbei und ab nach draußen in der Pause. Abkühlen, mit Kumpels ein paar Worte wechseln, Grüßen, Nicken, schiefes Grinsen und Satansfaust hier und Victoryfinger da. Yeah, man ist wieder dabei und mittendrin.

Fast Frost lässt schnell die Zahne klappern, also auf, hinein ins Gemenge. Platz einnehmen reicht nicht, ab auf die Bank, gerade mal 5 Meter sind es bis zur Bühne, perfekte Draufsicht und schon gehts los, gehts ab. Die Skandinavier haben’s einfach drauf. Die Schweden, um genau zu sein. Bassgitarren locker auf Schritthöhe, langes Haar im Rhythmus werfend, Lederkluft und geschlossene Augen, Bärte, Tattoos. Pendeln im Auf und Ab des bäm bäm dara bäm bäm dara bäm bäm. Nein, es gibt einfach keine Wortsprache dafür. Rinnender Schweiß, euphorisches Stampfen auf der Bühne und einen Meter tiefer geht das Volk mit. Typisch verhalten erst, mit verschränkten Armen, tja, harte Kerle halt. 

Irgendwann übernimmt der Körper den Rhythmus total, auch bei mir. Nichts mehr denken, machen lassen, eine gefühlte kleine Ewigkeit. Diese symphonischen Stücke haben es absolut in sich. Länger sind sie, lang, 10 min? 15? Egal, es rockt, es metallert, ballert und hämmert, schiebt und erhebt und macht was mit mir.

Und dann fallen mir meine Alten ein. Arbeitsalltag auf der Demenzstation, Alltagsbetreuung. Das unaufhaltsame Verblassen der Lebensgeister dort und wie sehr ich das hier, das Laute, das Durchschütteln als Ausgleich liebe und brauche und wie sehr ich wünsche, den ein oder anderen meiner Oldies mal mitnehmen zu können – hierher, in dieses Inferno aus Höllenlärm und Lichtgewittern, in mein ganz persönliches Paralleluniversum. 

Wahrscheinlich würden sie es mögen. Denn sie sind ja nicht alt im Geiste, eher werden sie wieder zu Kindern. 

Und bin ich das nicht auch – hier? Wieder ein Kind, das sich traut, laut mitzukreischen, die Arme hochzuwerfen vor Glücksgefühl! Amazing! 

Luftholen, Kraft tanken, fullpower – das ist es, was ich hier finde. Meine Leute würden vielleicht auf ihre altmodische Art sagen: die Lebensgeister wieder wecken. 

Hier mit Martha und Walter, mit Rollator und Hörgerät – und wippenden Köpfen, wie alle anderen auch. Und natürlich in schwarzen Klamotten, die dann – auch natürlich – so gar nicht nach Beerdigung aussehen. 

Verrückte Idee, oder?

***

2016