Sieben Leben

Der seltsame Gedanke tauchte zum ersten Mal in mir auf, als ich auf dem Markt war, mich gerade auf dem Brunnenrand niedergelassen hatte und mich aufatmend umsah. Das Menschengewimmel um mich her war mir wieder zu viel geworden, die Einkäufe hingen schwer in meinen Händen. Es war erst vormittags und doch fühlte ich mich so müde, ausgelaugt und fremd. Ja – fremd. Und ich dachte plötzlich: Ich gehöre nicht hierher! 

Die Fachwerkhäuser – ja, der alte Brunnen – ja, die Kirche – ja. Unter diese Menschen – nein. Die Zeit stimmt nicht, dämmerte mir. Verrückt!

Die alten Häuser, der Sandsteinbrunnen, die gotischen Fenster der Kirche – all das kam mir bekannt vor, schien vertraut, sodass es meinem Gefühl von Heimat nicht widersprach. Die Menschen um mich her allerdings in ihrer alltäglichen sommerlichen Kleidung, der Klappbuggy, den eine junge Mutter in Shorts und T-Shirt an mir vorbeischob, das aufblitzende Metall einer Uhr am Handgelenk des Mannes am Gemüsestand, die luftbereifte Sackkarre nebenan hielten meinen Blick auf. Und es war wie ein grundloses Stolpern beim Gehen auf glattem Grund. Nichts da, was den Schritt aufhalten könnte und doch… 

***

Nur langsam hatte ich mich nach dem Unfall erholt. Ich hätte nach der siebenten Nachtwache nicht mehr mit dem Auto heimfahren, lieber die S-Bahn nehmen sollen, sagte man mir. Aber die sechs freien Tage, die ich jetzt haben würde, standen so lockend vor mir, dass ich so schnell wie möglich weg wollte, nach Hause und nichts mehr müssen. Den Tag wieder selbst einteilen, mich treiben lassen, eine Freiheit, die ich oft vermisste und die zu genießen mir nie langweilig wurde. Das weiß ich noch.

Man sagte mir, ich wäre auf freier gerader Strecke von der Straße abgekommen und mein Auto hätte sich überschlagen und mir sei Gott sei Dank nichts Schlimmeres passiert. Auch niemand anderem. Ich kann mich nicht erinnern. Retrograde Amnesie sei nicht ungewöhnlich in so einem Fall, sagte man auch. 

Stimmt, körperlich fehlte mir nichts, von einigen Verspannungen und Schrammen einmal abgesehen und den ständigen, später nur noch selten auftretenden Kopfschmerzen. Doch ich selbst kam mir verlangsamt vor, beim Sprechen, beim Denken, beim Fühlen. Oder das Außen beschleunigt, die Autos, Jogger, Fahrradfahrer. Das Aufeinandereingerede.

Ich glaube ihnen alles, was sie mir erzählten über mich, meine Familie und die Welt in der ich lebe. Es bleibt mir auch gar nichts anderes übrig und ich gebe mir Mühe. Bemühe mich, wieder zurückzufinden in mein Leben. Wieder anzukommen. Noch fühlt es sich an, als wäre ich auf einer Reise ausgestiegen auf einem Bahnhof im Irgendwo und ich treffe Menschen, die vorgeben, mich zu kennen, mich begrüßen und beglückwünschen, wieder da zu sein. Nur kann ich ihre Freude nicht ganz teilen. Wie auch, ich kenne sie nicht. Erkenne sie nicht wirklich. Manchmal kommt mir jemand bekannt vor, das ja. Eine bestimmte Geste, ein Lächeln, ein unsteter Blick von ihm. Gesichtszüge, die vertraut scheinen, aber die dann doch zu große Nase, die etwas andere Augenfarbe oder die zu weich geschwungenen Lippen lassen mich abwarten, halten mich zurück davon, auf sie zuzugehen.

Man ist nachsichtig mit mir. Lasst ihr Zeit ist etwas, das ich immer wieder höre. Die Zeit – irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Es ist nichts Greifbares, nichts, worauf ich den Finger legen könnte. 

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Meine freie Zeit – meine Auszeit, wie man mir wohlwollend mitteilt – fülle ich jetzt oft mit Besuchen im Museum des Gemeindehauses. Dort zieht es mich regelmäßig hin, wenn mich das wieder in mir aufsteigende Gefühl der Fremdheit zu beunruhigen beginnt. Wenn ich unruhig geschlafen habe und aus wirren Träumen aufgetaucht bin und mich morgens fehl am Platz fühle. Im Museum zeigt sich Heimatgeschichte in Worten, Bildern und Gegenständen. Der Geruch von alten, vergilbten Papieren, rostigem Eisen, gealtertem Holz heißt mich mehr willkommen als es jeder Mensch hier könnte.

Und ich beginne zu suchen nach Vertrautem in dem Sammelsurium aus geschichtsträchtigen Dingen. Trete an jedes Bild, mein Blick tastet alle Fotos ab, ich lasse meine Hände über verwittertes Holz streichen, über gerissenes Leder an Zaumzeug, das noch einen Hauch Pferdeduft birgt. Ich lese in alten Pergamenten, blättere die Folianten durch und freue mich an längst nicht mehr gebräuchlichen Formulierungen. Weil sie vertraut sind. Weil sie mich auf eigenartige Weise berühren, mir näher liegen als das jetzige Zeitungsdeutsch, die Alltagssprache um mich her dort draußen.

In einem Winkel des hinteren Raumes entdecke ich über einem dreihundert Jahre alten Ensemble aus Tisch und zwei Stühlen ein Tuch mit Stickereien an der Wand. Verblichenes Rot auf vergilbtem Leinen, als Kostbarkeit vor Staub geschützt gerahmt und unter Glas geborgen. 

Eigenartig vertraut berühren mich die in den Stoff gebannten Worte:

Nutze deine sieben Leben.
Drei sind frei gegeben.
Drei sind abzugelten
In anderen Welten.
Eines ist geschenkt.
In welchem bist du?

Ein zierliches Monogramm aus geschwungenen Großbuchstaben sitzt als Schlusspunkt darunter. SOS. Das O vollständig rot ausgestickt. Eine sehr aparte Arbeit. Gebannt starre ich auf diese Stelle, trete näher. Und schiebe dann langsam den Ärmel hoch…

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Man hat mir gesagt, ich hätte nach dem Unfall noch telefoniert, die Notrufnummer angerufen und SOS gesagt, immer wieder. Nur das, nichts anderes. Mittels Handyortung habe man mich dann gefunden. So früh am Morgen eines Sonntags wäre außer mir niemand unterwegs gewesen und es hätte noch Stunden dauern können, bis das Auto jemand bemerkt hätte.

Man hat mir unter anderem auch gesagt, dass ich die Absicht gehabt hätte, mir demnächst ein Tattoo machen zu lassen. Den Entwurf hätte ich aber niemandem gezeigt, nur lächelnd abgewunken und darum gebeten, abzuwarten.

Zaghaft berühre ich meinen Oberarm an der Stelle, die zart kribbelt. Wo das Dunkelrot des kleinen Ornaments meine Haut zeichnet. Mein Name sei Sabrina Olivia Schneider hat man mir gesagt. SOS. Und lächelnd hinzugefügt: Da hatten Sie wohl einen Schutzengel, der Ihre Seele gerettet hat. 

***

Im Archiv des Museums recherchiere ich die Geschichte des Tuches, finde heraus, dass es einer Familie gehörte, die schon immer hier in der Gegend gelebt hatte, deren letzte Angehörige aber noch vor dem zweiten Weltkrieg ausgewandert waren. 

Das Kirchenregister ist gut erhalten und reicht mehr als 400 Jahre in die Vergangenheit. 

Schneider ist ein gebräuchlicher Name, den es an vielen Orten gibt. Und so finde ich recht bald eine Sabrina, deren zweiter Taufname Olivia ist, das siebente Kind des Samuel Otto, geboren 1716 als Tochter des Schneiders am Ort. Sie war, wie mir das Sterberegister verrät nur 21 Jahre alt geworden. Schwindsucht wurde als Sterbegrund angegeben.

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Wieder besuche ich das Museum, gehe diesmal zielstrebig zu dem hinteren Raum und verharre am Türrahmen. Ein heller Fleck im Halbdunkel zeigt mir an, was ich erneut betrachten muss. Mehr als fünfzig Jahre hängt die Stickerei schon über dem Stuhl an der Wand. Langsam gehe ich ihr entgegen. Als ich den Rahmen berühre, fällt alle Fremdheit von mir ab:

Ich sitze in langen Kleidern über die Stickerei gebeugt und meine feine Nadel sticht in den Stoff, ich ziehe den Faden durch und steche wieder, immer wieder hinein. Muhme Berte erzählt wie von mir gewünscht die Geschichte der sieben Leben, die sie von ihrer Mutter kennt, und jene von ihrer Mutter. Es ist unsere Familiengeschichte und ihr Ursprung liegt irgendwo in den alten Zeiten verborgen. Sie handelt von Wiedergängern und den siebenten Töchtern, von Schuld und Sühne, Gottes Verheißungen, von Liebe, Tod und Ewigkeit. Meine Gedanken schweifen ab und hin zu Christian dem Zimmermann, an dessen neuem Wams ich an Wochentagen arbeite. Nur sonntags haben wir Muße für heimeliges Beisammensein in der guten Stube am warmen Ofen und für Dinge, die nur uns selbst betreffen. Wie dieses Tuch, das ich gerade besticke, in das ich Bertes Geschichte und meine eigene und alle Wünsche und Träume fließen lasse.

Als ich mich unachtsam in den Finger steche, fällt ein Blutstropfen auf den Buchstaben, den ich gerade beende. Ich sehe, wie sich das Rot ausbreitet und an den gestickten Bögen Halt findet. Ein rotes Oval ist entstanden, als solle es so sein, als hat es so sein müssen. Aufgewühlt schlage ich ein Kreuz und bete darum, bleiben zu dürfen oder – wenn das nicht möglich ist, wie der Doktor sagt, es sei denn, ein Wunder würde mir helfen, – wiederkommen zu dürfen. Mein Husten durchbricht mein Flüstern, nicht jedoch meine Gedanken, die sich auf Christian richten, wie es ihm wohl ergehen wird, wenn ich fort sein werde. Sacht streiche ich über das feuchte Rot und bete und bitte und wünsche und hoffe…

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Mein Name ist Sabrina Olivia Schneider. Ich bin 21 Jahre jung. Ich bin keine siebente Tochter, sagt man, und ich weiß nicht, wer ich bin. Nur, wer ich war. 

Mein Mann Christian, der mich schon sein ganzen Leben lang kennt, wird mich gleich abholen. Wir wollen uns ein altes Haus anschauen, das zum Verkauf steht. Als Tischler wird er vieles selbst restaurieren können. 

Was meine Aufgabe für unser neues Heim sein könnte, das weiß ich noch nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, gerade in meinem geschenkten Leben angekommen zu sein. 

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2017