Sterne leuchten im Dunkel der Nacht

Martin weiß nicht genau, was ihn in diesem Jahr erkennen lässt: Es ist wieder soweit. Vielleicht liegt es an der Luft, die ihm bei seinen gewohnten Abendspaziergängen mit jedem weiteren Tag etwas kühler vorkommt. Sie streift nasskalt seine Hände, dringt in die Ärmel des Mantels, sogar unter den Schal; die Zeit der Nebel ist gekommen.

Ein sicheres Indiz aber ist, wie sich die Geräusche um ihn her verändern, die Zahl der Vogelstimmen abnimmt. Manche der Gesänge und Triller sind inzwischen verstummt, ohne dass er hätte sagen können, wann das eigentlich geschehen ist.

Auch nimmt er nun andere Gerüche wahr: Der süßlich fruchtige Duft der Falläpfel hat sich verloren und der herbe Atem des Herbstlaubs wird jetzt überlagert von holzig rauchigen Nuancen, eine letzte Erinnerung an die Holzfeuer in den Streuobstwiesen. Schon seit Tagen hat ihn eine leichte Unruhe erfasst, eine Mischung aus Sehnsucht und Vorfreude, aus Bangen und Hoffen.

Eines späten Abends steht Martin am Fenster, lässt die eisige Nachtluft herein, und während ihm sein Kater wärmesuchend um die Beine streicht, lauscht er in die Nacht. Ja, nun ist es zu hören: Es wehen einzelne zögerliche Töne von den Glocken der nahen Kirche herüber, dann wird aus ihnen ein schwermütiges Läuten, sich ausbreitend über der kleinen Stadt, in der er schon seit vielen Jahren lebt. Der tiefe volle Klang ist eine unverbindliche Aufforderung, das ist der Ruf, auf den er seit geraumer Zeit gewartet hat. Ja, es ist soweit! Martin streift die Stiefel über, hüllt sich in Schal und Mantel, greift zum Stock neben der Tür und macht sich auf den Weg.

Er taucht ein in den feuchtkalten Nebel, der alle Geräusche dämpft, und die Schritte anderer Leute, die wie er unterwegs sind, nimmt er seltsam dumpf wahr. Ah, auch seine eigenen Stiefel treten weicher, es ist wohl schon etwas Schnee gefallen.

Martin lässt sich vom Läuten führen, das zunehmend deutlicher klingt, und folgt dem vertrauten Weg um etliche Straßenecken herum durch die Altstadt. Die Menschen, die zu dieser späten Stunde unterwegs sind, scheinen dasselbe Ziel zu haben wie er. Leise hört er sie reden und hin und wieder klingt ein Lachen auf. Auch Kinderstimmen sind darunter.

Als er um die nächste Ecke biegt, tönen die Glocken laut und klar über ihm. Das Stampfen derer, die den Schnee von den Stiefeln klopfen, leitet ihn zur hohen Pforte, durch die die nächtlichen Besucher in den weiten hohen Raum strömen. Das Gemurmel unzähliger Stimmen hallt ringsum von den Wänden wider und geleitet ihn weiter und weiter hinein, bis seine Hände eine Lehne greifen und er sich auf eine der Holzbänke schieben kann.

Aufatmend lässt sich Martin nieder und zieht tief den ganz besonderen Duft ein, der ihn hier umgibt: diese spezielle Mischung aus Moder, Weihrauch und brennenden  Kerzendochten, die dem alten Gemäuer entströmt. Heute liegen wärmende Wolldecken auf dem sonst so kühlen Holz, sodass er sich angenehm berührt zurücklehnt, andächtig die Hände im Schoß faltet und der Dinge harrt, die da kommen wollen.

Wie viele Besucher wohl in diesem Jahr den Weg hierher gefunden haben? Täuscht er sich oder sind es mehr als beim letzten Mal? Ihr Atem wärmt bereits die Luft, oder sind diesmal besonders viele Kerzen entzündet worden? Nach und nach verklingt das Läuten und die Gespräche der Menschen um ihn herum ersterben mit einem letzten Hüsteln hier und Räuspern dort. Auch der kleine Junge in der Bank vor ihm, der sich eben noch angeregt mit seiner Mutter unterhielt, ist ruhig geworden.

Plötzlich fallen in die Stille hinein die dröhnenden Schläge der Turmuhr: eins, zwei, drei, vier und dann folgt in tieferer Tonlage langsam ein vibrierend voller Klang auf den anderen. Martin zählt und mit jedem weiteren Glockenschlag breitet sich Ruhe in ihm aus. …zehn, …elf, …zwölf. Der letze Ton verklingt und sie beginnt – die Heilige Nacht. 

Aufbrausend stimmt die Orgel ihr gewaltiges Lied an und ringsum fallen, erst zögerlich, dann sich erinnernd, die Stimmen der Anwesenden ein. Martin merkt, wie ihm der Hals eng wird, ob er will oder nicht – jedesmal berührt in diese Musik und die Andacht der Menschen zutiefst. So einige Heilige Nächte hat er schon hier verbracht, früher eher aus einer Laune heraus, später dann ist es ihm zum unverzichtbaren Ritual geraten. Und als das seltene und gleichwohl seltsame Erlebnis in der vorangegangenen Heiligen Nacht in seiner Erinnerung aufblitzt, beginnt sein Herz zu klopfen, als wären seine Schläge der Nachhall der Turmuhr. 

Martin lauscht durch seine innere Dunkelheit hindurch den Wogen der strömenden Musik, fühlt, wie sie ihn erreicht, umtost und durch ihn hindurch brandet, etwas in ihm reinigt und dann zum Glühen bringt. Da entsteht ein schwaches Schimmern hinter seinen geschlossenen Augen, einen bläulich grünen Schein meint er wahrzunehmen und schon wird ihm etwas leichter ums Herz. Sollte es auch dieses Mal…? Kribbelnd steigt Vorfreude in ihm auf und lässt rosavioletten Dunst vor dem smaragdblau schimmernden Hintergrund seines inneren Bildes entstehen. 

Die Musik verklingt und nun beginnt jemand mit hallender Stimme zu sprechen. Doch die Worte rauschen an ihm vorbei, unbedeutend angesichts der wunderbar zarten Farbtöne, die sein Inneres sanft erhellen. Ihm wird so sonderbar zumute, so leicht wie seit langem nicht mehr. Da nimmt Martin eine langsame Bewegung wahr, und tatsächlich beginnen die Farben ineinander zu fließen, das jetzt kräftige Blau und das leuchtende Rosa verbinden sich kreisend zu sternförmigen, sich stetig wandelnden Mustern von erhabener Symmetrie. 

Als die kraftvollen Klänge der Orgel wieder einsetzen und die Leute um ihn herum einstimmen in den Choral, vernimmt er jetzt auch deutlich den Jungen auf der Bank vor ihm. So rein, so klar, so unbefangen, wie nur ganz junge Menschen zu singen vermögen, jene, die die Dunkelheit in der Welt noch nicht als Last des Lebens erkennen mussten. 

Und erstaunt nimmt Martin jetzt wahr, dass sich eine weitere Farbe zu seinem inneren Leuchten gesellt: Da sind blitzende schwebende Funken von glitzerndem Silber, die sich wie fallende Sternschnuppen harmonisch in die Spitzen der Sterne einfügen, bis jeder funkelt wie ein kleines Stück Nachthimmel. Dieser herrliche Anblick treibt Martin Tränen in die Augen und lässt ihn erschauern vor Glück. Das ist es! Auch in diesem Jahr darf er es also wieder erblicken – das Licht der Sterne! Die unbeschreibliche Schönheit des Funkelns, die erhabene Reinheit der klar leuchtenden Farben, die Anmut der sich drehenden Sterne. Jeder einzelne ein Stück des Himmels, der seine Heiligkeit mit ihm teilt.

Versunken in den wundervollen Anblick der funkelnden magischen Lichter in seinem eigenen inneren Universum, lässt Martin die Messe an sich vorüberziehen. Noch eine Andacht, ein weiterer Choral auf der altehrwürdigen Orgel und dann kommt er gerade wieder zu sich, als ein vielstimmiges Amen erschallt. Ja, fühlt er: Amen. So sei es – Friede sei mit euch! 

Die Leute erheben sich und wie es üblich ist in dieser besonderen Nacht, an diesem geweihten Ort, reichen alle reihum ihrem Nächsten die Hand. Martin hebt erstaunt den Kopf, als sich eine kleine warme Hand zwischen seine Finger schiebt und eine helle Stimme ihm eine frohe Weihnacht wünscht. Mit belegter Stimme dankt er und wischt sich dann verlegen über die Augen. Tief berührt sitzt er noch da, als sich die Bänke zu leeren beginnen. Er verlässt die Kirche als einer der Letzten.

Martin geht langsam und ganz erfüllt von beschwingter Heiterkeit durch die stille, heilige Nacht zurück nach Hause. Dieser Junge aber auch, wie warm seine Hand war, welch schönes berührendes Gefühl es war, sie in seiner zu halten… 

Er freut sich auf das warme weiche Fell seines Katers daheim, der sicherlich die eisige Nacht lieber in Ofennähe zubringen wird, als draußen in der Kälte zu jagen. Und gleich morgen früh wird Martin das Vogelhäuschen am Apfelbaum in seinem Garten bestücken und vielleicht danken die kleinen gefiederten Gesellen ihm wieder mit zarten Rufen und Trillern.

Es ist jetzt noch kälter draußen, doch die Luft auf seinen Wangen fühlt sich trockener an. Wahrscheinlich wird morgen die Sonne scheinen, kommt ihm in den Sinn, und er freut sich schon darauf, diesen anderen Teil des Himmels wieder als Wärme im Gesicht spüren zu dürfen. 

Martin hat es nie anders gekannt.

Auch der kleine Junge ist auf dem Heimweg. “Warum…”, fragt er plötzlich aus seinen Gedanken heraus die Mutter, “… hat der alte Mann hinter uns in der Kirche denn geweint? Die Messe war doch so schön!” Sie drückt seine Hand und sagt: “Hast du nicht die Armbinde gesehen? Die gelbe mit den schwarzen Punkten? Der Mann ist blind. Wir wissen nicht, welches Schicksal er mit sich trägt, und was ihm während der Messe begegnet ist. Aber weißt du, er sah eigentlich nicht unglücklich aus. Im Gegenteil, da war ein Glanz in seinen Augen… Wer weiß, was er gesehen hat.”

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2016