Vom Nebel und der Krähe

Vor langer Zeit, als es noch weniger Menschen und dafür um so mehr Tiere gab, geschah es, dass sich eine Krähe in einen Reiher verliebte. Nicht, dass sie unter ihresgleichen nicht einen passenden Gefährten gefunden hätte – die Auswahl war geradezu unerschöpflich – und sie hatte auch nicht nach dem ganz Besonderen gesucht, das liegt nicht in der Natur von Krähen. 

Nein, es ergab sich einfach. Einfach so. Eines Tages, es war ein nebeliger Herbstmorgen, stocherte die Krähe mit ihrem glänzend schwarzen Schnabel am Rande eines Weihers zwischen den ersten gefallenen Blättern umher, als sie ein leises Rauschen vernahm. Sie sah neugierig auf und erblickte einen großen silbergrauen Vogel, der majestätisch hernieder schwebte und sich dann lautlos auf einem Baumstumpf am Wasser niederließ, um dort unbeweglich zu verharren.

Was für ein schöner Vogel, dachte sich die Krähe, groß und doch so grazil und elegant! Was für ein schimmerndes silberhelles Gefieder er hat! Er muss wohl schon vielen Gefahren begegnet sein, dass er so gelassen und aufrecht zu stehen vermag. Sie bewunderte aufrichtig seinen langen spitzen Schnabel, den ebenso langen schmalen Körper, der so ganz anders als ihr eigener gedrungener war. Und seine zierlichen zartgliedrigen Beine erst, welch Genuss zu sehen, wie sie den großen silbrigen Körper mühelos in der Waage hielten!

Als der Reiher nach einiger Zeit lautlos abhob, über den Weiher schwebte und dann blitzschnell seinen Schnabel in die Fluten tauchte, mit einem schimmernden und zappelnden Etwas wieder aufflog und sich wieder gelassen wie vormals auf dem Baum niederließ, dachte die Krähe ergriffen: welch ein Wunder! Er hat im Wasser einen Schatz gefunden! Sogar einen, den er fressen kann. Deshalb also ist sein Gefieder so schön silberhell!

Die Krähe betrachtete ihre eigenen schwarzen Federn, befand sie als recht kurz, stumpf und zu dunkel und so gar nicht begehrenswert. Was würde sie darum geben, ein ebenso silbrig schimmerndes Gefieder ihr eigen zu nennen! Dann würde sie auch so schön sein, wie der große stolze Vogel dort. Und vielleicht würde sie ihm dann sogar gefallen?

Vorsichtig näherte sie sich dem Ufer und machte mit trippelnden Schritten auf sich aufmerksam, doch der Reiher sah weiterhin geradewegs auf den See hinaus und schien sie nicht wahrzunehmen. 

Vielleicht, so dachte sich die Krähe, wenn ich auch so silbrige Dinge fresse, wird dann mein Gefieder ebenso hell und silbergrau, und sie begann auf die angespülten Muscheln einzupicken, die zumindest eine graue Färbung hatten. Als sie sie aufgeklopft hatte, leuchtete das Innere perlmutten und silbergrau und hocherfreut verspeiste die Krähe das Muschelfleisch. Doch so recht wollte ihr dieses Mahl nicht schmecken, das schleimig und klebrig in ihren Schlund rutschte. Manchmal muss man eben Opfer bringen, sagte sich die Krähe, und fraß alle Muscheln, derer sie habhaft werden konnte.

Gerade als keine weiteren mehr zu finden waren, rauschte ein Schatten über sie hinweg und sie sah den wunderschönen großen silbriggrauen Vogel erhaben durch die Luft gleiten, immer höher aufsteigen und sich unaufhaltsam entfernen. Die Krähe sah ihm traurig und sehnsüchtig nach, bis sie ihn über den nebelverhangenen Wipfeln des Waldes aus den Augen verlor.

Ja, traurig war sie, weil sie nicht wusste, ob sie den Bewunderten je wiedersehen würde, und ein wenig schlecht war ihr auch von dem ungewohnten Mahl. Müde vom Fressen und den entmutigenden Gedanken zog sie sich in ihr Nest auf einer Astgabel eines nahen Baumes zurück. Sie hörte andere Krähen in der Nähe krächzen, doch es klang nicht mehr so vertraut, nicht mehr so nach Heimat und Nähe wie sonst immer. Ihre Gedanken schweiften wieder und wieder zu dem großen majestätischen Vogel im silbergrauen Federkleid und noch nie hatte sie sich so allein gefühlt wie eben jetzt.

Die Sonne wollte wohl noch nicht hinter den Wolken hervorkommen und so wurde der Nebel dichter, er breitete sich feucht und Kälte mit sich bringend über das Land und die Krähe duckte sich tiefer in ihr Nest. Klagend seufzte sie: “Kr-ach-ach-ach” und nochmal “Kr-ach-ach-ach-ach”. Sie legte ihren Schnabel auf den Nestrand und sah trübselig in den Nebel hinaus.

“Ach-ach Nebel, weißt du mir vielleicht einen Rat? Was hat den schönen Vogel so silbern gemacht?” 

Und der Nebel strich über sie hin und flüsterte: “Das war die Natur!”

“Die Natur? Wo finde ich die?”, fragte die Krähe erstaunt.

“Nun, ich bin ein Teil von ihr.”, antwortete der Nebel.

“Dann kannst du mir sicherlich, liebster Nebel, zu einem silbergrauen Gefieder verhelfen?”

“Wenn es der Wille der Natur ist, will ich sehen, was ich für dich tun kann.”, sprach der Nebel und konzentrierte sich über dem Federkleid der Krähe, ballte sich zusammen und legte sich auf ihre Federn: lastend, klamm und kalt.

Der Krähe wurde noch schwerer ums Herz, Kälte drang ihr unters Gefieder und ein Gewicht legte sich auf sie, das sie schier zu erdrücken schien. Sie versuchte es auszuhalten, wollte sie doch schön sein, silbrig und fein, wie der wundervolle große Vogel, den sie längst zu lieben glaubte. 

Doch ihr fiel das Atmen immer schwerer, die Kälte griff nach ihrem Herzen und drückte es so arg, dass sie meinte sterben zu müssen. Die sonnigen heiteren Tage ihrer Kindheit im Frühjahr tauchten vor ihr auf, der warme Sommer, den sie im Spiel mit anderen Krähen verbracht hatte, und ein Winter, in dem sie ohne ihre Gefährten zu erfrieren drohte, stand ihr jetzt so Furcht erregend vor Augen, dass sie sich mit letzter Kraft gegen die Nebellast aufbäumte, sich schüttelte und aufplusterte. 

Sie begann mit den Flügeln um sich zu schlagen, den Nebel zu vertreiben und langsam wurde ihr wieder warm. Ihr Herz schlug schnell und lebendig, die fühlte die Kraft ihrer Flügel und wusste, sie würden sie überall hin tragen. Erleichtert und ernüchtert beruhigte sie sich wieder.

Als sie sich mit dem Schnabel die Schwungfedern glatt streichen wollte, sah sie voller Verwunderung, dass ihre Brust silbergrau gefärbt war. Der Nebel hatte ihr einen silbergrauen Körper geschenkt! Andächtig betrachtete die Krähe das silbrige Schimmern ihres Gefieders: Seltsam froh war sie jetzt und doch auch wieder nicht… War sie denn noch eine Krähe? Aber ein Reiher war sie auch nicht! Denn ihr Körper zeigte sich immer noch etwas plump, die Beine recht kurz und ihr Schnabel ziemlich gedrungen. Wer war sie?

“Kr-ächz, Kr-ach-ächz, du Nebel, Nebel, was ist geschehen?”, rief die Krähe aus ihrem Nest in die feuchtgraue Luft hinaus, “Was hast du getan?”

“Wir beide haben etwas getan. Du hast dir einen Wunsch erfüllt und ich habe dir dabei geholfen, so gut ich konnte. Du und ich, wir sind beide Teil der Natur, liebe Krähe, wir haben etwas Neues geschaffen! Ab heute bist du eine Nebelkrähe!”, antwortete der Nebel gelassen.

“Danke!”, hauchte die Krähe mehr als sie sprechen konnte. Zu merkwürdig war das Ganze, zu seltsam, was geschehen war. Sie wusste einfach nicht, ob sie sich freuen sollte oder eher erschrocken war. Sie hatte etwas von ganzem Herzen gewollt, doch es war nicht ganz das dabei herausgekommen, was sie gewünscht hatte. Und sie hatte sich augenscheinlich verändert, äußerlich, doch innerlich – im Herzen – war sie nach wie vor eine Krähe. Und letzteres fühlte sich gut an, gut und richtig, und ein wenig besonders. 

Dann begann sich ein stiller Frieden in ihr auszubreiten. Sie ist eine besonders starke Krähe, das wusste sie jetzt, die auch den eisigen, silbergrauen Winter überleben würde. Ihre silbrigen Federn hatten sie auf natürliche Weise dessen herausfordernden Bedingungen angepasst. Ja, ein großartiges Geschenk hatte sie sich selbst gemacht!

“Danke!”, rief sie in den Nebel hinaus, der langsam der Sonne zu weichen begann und einen warmen leuchtenden Herbsttag freigab.

***

Seit jenem Tag kann man auf den Feldern und Wiesen silbergraue Krähen sehen. Sie sind zahlreich und überleben auch die kältesten Winter. Sogar den Menschen haben sie sich angenähert. Wenn diese in der Saatzeit auf den Feldern arbeiten, sieht man die Krähen hinterdrein schreiten und sich saftiges Futter aus den frischen Furchen ziehen. Manche nennen sie auch Saatkrähen. 

Aber ihren Namen haben sie, so sagen die Menschen, daher, dass sie sich an Nebeltagen in großen laubleeren Bäumen versammeln und mit ihrem Krächzen den nahenden Winter ankündigen.

Die Nebelkrähe selbst weiß wohl am besten, woher sie ihren Namen hat, und sie erinnert sich gern daran, wenn sie im Herbst an nebligen Tagen mit ihren Artgenossen immer wieder ihren Dank hinaus ruft: Kraaah, Kraaah!

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2012