Waldleben Wiesenbeben

An mir hinuntersehend erscheine ich. Von den bloßen Füßen wachse ich hinauf ins Sein. Wechsele von unsichtbar über durchscheinend in handfeste Gewissheit, vermeine zu spüren, wie mein Blut beginnt zu kreisen, langsam erst, dann stetig. 

Mein Blick gleitet aufwärts über sich färbende Haut. Vertraute Festigkeit erfährt mein Inneres. Die Schultern erstarken den Hals stützend und meinen Kopf hebend. Ich schaue den Nebel durchdringend in grenzenlos vielfältiges Grün.

Freude beginnt mich zu tragen. Grün – wie schön, wie lebendig. Nicht immer gelange ich zum Grün. Manchmal erschien auch schon ein Blau, fließend, strömend und mitreißend, oder eine sandfarbene Melange, rieselnd und packend. Grün ist sanfter, lichter und dabei kraftvoll und stark und hat etwas von allen Elementen. 

Vor meinen staunenden Augen formt sich diesmal das Grün zu Ästen, Blättern und Stämmen, Gräsern und Moosen. Unter meinen Füßen spüre ich Weichheit und Frische. Ein erster achtsamer Schritt erfährt Willkommen sein. Ich schreite langsam durch diese lebendige doch zurückhaltende Welt. Alles bleibt an Ort und Stelle. Der Eindringling bin ich.

Meinen Sinnen erschließen sich nun Summen und Raunen, Gezwitscher und Rauschen. Weiches und Raues berührt meine Hand. Fruchtbar Rotes lässt Tropfen auf ihr zurück. Ich koste nie gekannte Süße. Nasche hier und dort, verführt von verschwenderischer Fülle. Toll – schwingt ein Wort durch meine Seele. Kirschenessen.

Aus dem Augenwinkel zieht mich Helle an. Nun wendend lasse ich mich auf die Wiese ein. Das kleine vollkommene Reich tut sich bereitwillig auf. Buschbegrenzt und grasbesetzt scheint es von anderem Volk bewohnt als der Wald ringsum. Auch ein Thron fehlt nicht in seiner Mitte: Ein Weihaltar, niedrig und aus Moosachat, smaragdgrün glänzend und jaspisgemasert. Gekrönt mit Hollerblüten und moosgepolstert lädt er, jeder Königin würdig, hoheitsvoll fordernd zur Hingabe ein. 

Schon leicht betört vom Duft der Minzen und Melissen sinke ich dem steinernen Moosbett entgegen, geschmeidig mich drehend mit Blick zum Himmel. Kein Blau. Hainbuchengrün und blutbuchenrot winken die Blätterdachhände mir wedelnd zu. Geborgen schließe ich die Augen. Alles ist gut. 

Der leichte Wind haucht mir ein A-a-a-ah über die Stirn hinweg zum Busen und mein Atem antwortet bereitwillig mit langgezogenem J-a-a-a. Meine Augenlider zittern leicht und überlassen dann der Haut das Sehen.

Bemooste Hände teilen mein Gewand, teilen mich und teilen sich mir mit. Ziehen Efeuenden achtsam und vorwitzig zugleich um meine Arme und Beine, Hände und Füße, Finger und Zehen. Verbinden mich mit Moosgrund und Findlingsbett, verflechten mein Haar mit Schleiergras. Fest halten sie mich und dabei Entfesseltes lösend, heben sie mich auf und lassen mich wieder sinken. Ich biege mich ihnen begehrlich entgegen, steigere mich, vertiefe mich, lasse mich fallen und gebe mich dem Rhythmus hin.

Wie alles dem Licht Zustrebende finden sie sicher meine geheimen und leuchtendsten Stellen, erforschen enge Spalten und warme Höhlen, stoßen auf tiefste Seen und unentdecktes, nie geschautes Land. Altare bauen sie und Feuer züngeln auf an allen neu entdeckten Punkten. Sie opfern sich in mir. Grenzen weiten sich, Hitze breitet sich aus, weit, weit. Mein Atem facht sie an mit jedem neuen Ja. Ja, J-a-a-a-a. Der Wind, jetzt fauchend, hilft nur allzu bereitwillig mit jedem seiner Stöße. Hebt mich an, hebt mich auf, hält mich im Sturm.

Dornen spürend, Blut leckend, Tränen lachend, Süße schmeckend schwebe ich. Ich fühle und ich bin: All das – das All. Licht und Schatten, Hitze und Kälte, Liebe und Hass verschmelzen in mir. Mein Herz formt sich neu heraus und diesmal in Herzform.

Aus Grün wird Rot. Wärme, Hitze, Glut. Der sprengend gleißende Blitz blendet nicht, denn er ist ich und ich bin Licht.

Ich schwebe. Gepackt, gehalten, gelassen … berste dann im plötzlichen Donnerschlag. Ausgelöst: Ein Funkenregen. Ausgelöscht. Kurz nur, doch eine Ewigkeit: Ich bin nicht mehr. 

Entstehe neu. Tauche wieder auf aus Nebel und Rot, mit grünen Augen und gräsern hellem Haar. Mit neuem Herz und frischem Blut.

Nun sinke ich, langsam, auf den Moosgrund zurück. Hitze und Glut lösen sich von mir mit jedem der jetzt fallenden kühlen Regentropfen. Barmherzige Erlösung. Leicht ist mir. Alte, noch warme Asche bin ich und aus Asche werde ich neu geboren. Wasserelement – ich lebe. Aus aschfahl wird Morgenrot. Abgewaschen ist alles Alte.

Meine Lider öffnen sich und schauen die Kirschin. Sie reicht mir lächelnd und wissend die Hand, hilft mir auf. Grün ist sie jetzt wieder und zurückweichend an den Wiesenrand leuchten ihre Zauberfrüchte ein letztes Mal rot auf, bevor der aufziehende Nebel mich heimträgt.

Ein Traum – lange gewünscht und in Erfüllung gegangen. Ich habe mich verwunschen. Bin wunschlos glücklich nun für eine ewig kurze Zeit.

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2010