Widerstehen

Eine Überraschung hättest du, aber ich müsse früh aufstehen. Du lächelst – sehr früh! Dafür bin ich gern zu haben. Und so sind wir um fünf Uhr morgens aus dem Haus und rein in die S-Bahn, mitten unter lauter müde Gesichter. Zwei Augenpaare leuchten: unsere. Ich weiß immer noch nicht, wohin es geht. Eine Überraschung eben. Deshalb frag ich nicht.

Stuttgart Hauptbahnhof. Wir laufen durch von Kunstlicht erhelltes Dunkel hinüber in den Schlosspark. Ach ja, ich erinnere mich, du engagierst dich: Parkschützer. Und da sind auch die Anderen, teilen dasselbe Anliegen. Keine Zeit, enttäuscht zu sein, bin gespannt, überrascht.

Es ist durchgesickert: Heute soll ein weiterer Parkteil zweckentfremdet, dem gigantischen Bahnprojekt nebenan untergeordnet werden. Das dann notwendige Absenken des Grundwasserspiegels hat noch ungeahnte Auswirkungen für die Talkesselstadt. 

Ohne Genehmigung Tatsachen zu schaffen, ist eine Spezialität der Gegenseite, höre ich. Außer dir kenne ich niemanden, aber die Atmosphäre ist gut. Keine Aufgeregtheit, dafür eindringliche Gespräche untereinander. Ganz normale Leute sind sie. Mit Einkommen, festem Wohnsitz, Kindern, Garten. Einige wenige auch ohne all das und trotzdem hier.

Noch ist alles ruhig und wir entschließen uns zu Frühstück und Tee im Bahnhofscafé, sind wieder ganz bei uns und ich erfahre mehr. Bürgerprotest gegen dieses Projekt. Demo für, nicht gegen etwas. Keine Zustimmung zum Schulden abladen auf den Schultern unserer Kinder. Willst Natur erhalten, Vernunft walten lassen. Deinen Anteil leisten, eine innere Verpflichtung einlösen.

Es fasziniert mich, zu sehen, zu spüren: Du weißt, was du willst, was für dich wertvoll ist, voll erhaltenswerter Lebendigkeit, auch wenn du anfangs mit wenigen Freunden alleine warst – es wurden stetig mehr. Und du packst an, redest nicht nur. Eingelöste Absichtserklärungen. Anziehend ist das. Mitreißend.

Zurück zum Park spazieren. Die Sonne ist auf. So friedlich ist es hier. Im Bogen laufend, sehen wir die inzwischen geschaffenen Tatsachen: einen frisch gezogenen Bauzaun – unumstößlich? – , dahinter eingeschlossene Protestler. Nur eine Stunde waren wir fort. Schnell waren sie. 

Näher kommend nehme ich die Polizisten wahr. Viele sind es, fast mehr als wir anderen. Wie Roboter wirken sie, reglos stehend mit steinernen Mienen. Darunter auch junge Frauen: schmale Gestalten, zarte Gesichter mit Pferdeschwanz unter dem Käppi. Ich fasse es nicht! Bin erschüttert – sie wirken so fehl am Platz wie Blumen auf der Müllhalde. Und sind doch freiwillig hier, in letzter Konsequenz.

Betroffen muss ich stehen bleiben. Spüre wie eine erdrückende Wand die Grenze zwischen den Ansichten. Hier Aussitzen, dort Auf-die-Füße-Treten. Stiller Protest, aufmüpfige Blicke gegen Geradeausstarren.

Der Schlossgarten in seiner morgendlichen Ruhe, durchstrahlt vom ersten Sonnenlicht, wabernde Nebelschwaden, friedlich Lagernde zum einen – zum anderen schwarze, blaue, grüne Maschinenmenschen in voller Kampfausrüstung: Helm, Panzerung, Schlagstock. Ein Kontrast der stärker nicht sein kann: Dunkel gegen Licht inmitten von sonnengelb und herbstgrün.

Fühle mein Herz angestrengt schlagen. Es hat schwer zu tun. So viele Empfindungen strömen ein! Du drückst meine Hand, beruhigend.

Unwillkürlich ziehe ich mich zurück. Muss es einfach, die Wand droht mir aus der Ferne. Es geht mir beschissen damit. Weiche rückwärts unter die Bäume aus. Suche Halt an einem Stamm, rutsche runter bis ich sitze. Mit großen Augen, die Arme um die Knie geklammert, starre ich auf das unwirkliche Bild: Morgensonne und Schattenfelder, trotz wolkenleeren Himmels.

Seitlich formiert sich ein schwarzer Trupp zu Dreierreihen. Da, ein Lied! Junge Stimmen umtanzen singend, sich an den Händen haltend, die Staffel. Das Schwarze setzt sich in Bewegung, sprengt den Ringelreigen – einfach so, mit starrem Blick geradeaus. Zur Seite stolpern Frauen, Männer, Kinder. Einfach weggedrängt, wie nicht vorhanden, von blinden Maschinenaugen.

Tränen steigen auf, will sie erst gar nicht zulassen. Hab mich nicht so, stell mich nicht so an. Du drückst mich an dich, mit fragenden Augen. Geh nur, sage ich, mach dein Ding. Das tust du, nach einem besorgten Blick auf mich.

Schon bist du vorn am Zaun, mitten unter Gleichgesinnten. Auch ich fühle mich jetzt verbunden – mit euch, bei euch. Mein Herz hat sich entschieden, aber kann noch nicht dorthin: Erschütterung macht weiche Knie, hält mich am Boden fest.

Hinterm Zaun kommt Bewegung auf. Einer nach dem anderen wird hochgezerrt, aufgehoben, weggeschafft. Die Getragenen lachen: wird nicht das letzte Mal sein! Die Träger schwitzen mit verbissenem Gesicht. Das alles dauert. Gut so, ein Aufhub, ein Aufschub nach dem anderen. Mittlerweile schlägt es Mittag, noch ist kein Bagger in Sicht.

Inzwischen stehe ich vorn, wieder mitten unter euch. Musik ist eingetroffen, Sympathisanten entlocken ihren Instrumenten exotische Töne. Beruhigend und mitschwingend zugleich, perlen sie durch die Menschen, verbinden sie. Ein Spätsommertag im Biergarten – noch nicht zu spät, um mitzufeiern.

Was vorher deines war wird hier zu meinem. Ich gewinne Einsicht und wir teilen sie uns, halten die Stangen desselben Banners. Gesetzlosigkeit von Regierungsseite – wer hätte das gedacht? Wie blauäugig bin ich eigentlich? Hinterfrage doch sonst immer alles. Mein Vertrauen ist einmal mehr erschüttert. Nicht nur in Recht und Ordnung, auch in die Menschen.

Am Zaun fliegen Argumente hin und her. Am Metall wird gerüttelt und an den Nerven gezerrt. Spannung zittert in der Luft. Ein Lächeln, ein Schulterklopfen hier und da, hindert sie am Eskalieren. Dienstanweisung gegen Bürgerbegehren. Wir begehren auf. Nieder mit diesen Machenschaften, ein Hoch auf die Bäume! Die Pferdestaffel, frisch eingetroffen, hält sich zurück. Zu viele Spaziergänger inzwischen auf den Wegen.

Drei, vier hinter dem Zaun haben sich in Bäume gerettet, hoch hinaus. Sind in sie geklettert, stehen jetzt auf ihnen und für sie ein. Nachbarschaftshilfe – kommt mir in den Sinn, ja. Bemerke meine Schadenfreude über hilfloses Uniformgerenne am Boden. Belustigt schaue ich dich an und frech grinst du zurück.

Stunde um Stunde vergeht, viele sind wir jetzt. Färben den Zaun bunt mit unserer Standhaftigkeit. Hunderte müssten von ihm abgezerrt werden, will man uns los werden. Ohne Öffnung im Zaun aber kein Baggereingang. Unruhig sind wir trotzdem. 

Der Status quo wird konstatiert, endlich. BUND-Gutachten gegen voreilige Baumaßnahmen – ein heißes Eisen. Nach mehrfach verbrannten Fingern auf Konzernebene scheint man vorsichtiger zu werden. 

Warten, abwarten – und Wasser trinken.

Am frühen Abend kommt Entwarnung: Heute kein Bäumefällen mehr, keine Erdverletzung, kein Wurzelabriss. Entspannung macht sich breit, die Sonne scheint ein wenig heller kurz bevor sie untergeht. Nach 12 aufgeregten Stunden fällt Erleichterung ermüdend über uns. Hände auf Schultern, Hand aufs Herz, alles gut – für heute.

Im letzten Abendlicht schlendern wir auf langen Parkwegen entlang gen Heimat. »Unser Park, unser Land, unsere Bäume« haben wir heute gerufen. Jetzt fühlen wir es tiefer in uns. Verwurzelt, dankbar, andächtig. Du zeigst mir deinen Lieblingsbaum. Vater nennst du ihn. Auch ich finde meinen bald, trotz der großen Auswahl. Nehme ihn in die Arme, bete für ihn und alle anderen, werde willkommen geheißen. Überraschend schnell.

Wir haben uns heute neu kennen gelernt. Puzzleteile angefügt, Finger ineinander verhakt, wie Wurzeln sich ins Erdreich senken. Überraschend leicht – Überraschung gelungen, sage ich dankbar. Und du strahlst wie der Halbmond über uns.

Nachtrag:

Zwei Tage später bestätigte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Unrechtmäßigkeit des geplanten vorzeitigen Baubeginns. Das BUND-Gutachten über die Auswirkungen der Grundwasserabsenkung auf die Thermalquellen, die Grünflächen der Talstadt muss abgewartet werden.

Aufschub, Zeit zum Luft holen, Kraftsammeln. 

Aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. 

Wir kommen wieder!

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2011