Wie die Müller zu ihrem Namen kamen

Kürzlich fand ich mich bei einem Waldspaziergang an einem Rastplatz mit Namen Mühlengrund wieder. Es war ein wahrlich lauschiges Plätzchen, nur die liegen gelassenen Abfälle anderer Wanderfreunde trübten das beschauliche Bild. Und da fiel mir eine Geschichte wieder ein, die ich selbst unlängst erzählt bekam.

An einem kalten und dunklen Winterabend hatte ich mich mit etlichen Anderen in der heimeligen Gemeindestube am Kamin eingefunden und der Dorfälteste wurde von den jungen Leuten gebeten, eine seiner Schnurren aus alter Zeit zum Besten zu geben. Der alte Konrad ließ sich auch nicht lange bitten, stopfte sich noch schnell ein Pfeifchen und hob dann an:

Wie die Müller zu ihrem Namen kamen

In alter Zeit, als Begriffe wie Autobahn und Telefon, Fernseher und Müllabfuhr noch unbekannt waren, stand hier ganz in der Nähe eine kleine Mühle. Ein Mühlenherr war ein geachteter und für die Leute sehr wichtiger Mann, denn, wie ihr wisst, muss aus Korn erst Mehl gemahlen werden, bevor es ans Brotbacken gehen kann.

Die Mühle also stand unweit des Dorfes am Waldrand, wurde von einem kleinen Bach umflossen, der in einen Weiher mündete, und war so klein, dass der Mühlenherr nicht einmal Lehrburschen hatte, geschweige denn Mahlgesellen. Und so lebte er denn allein in seiner Mühle und wurde nur hin und wieder von den Dörflern besucht, die ihr weniges Korn zu ihm brachten.

Es waren karge Zeiten und oft entlohnten die Leute ihm seine Mühe nicht mit Talern, sondern brachten ihm irgendetwas, das sie entbehren konnten. Da er ein gutmütiger Mensch war, nahm er alles und verwahrte es auf. Vielleicht, dachte er sich, bessern sich einmal die Zeiten, und ich kann es den Leuten zurückgeben. So sammelten sich immer mehr Dinge an, manches verkam zu Plunder und Unrat, anderes ging entzwei, doch der Mühlenherr mochte sich nicht davon trennen.

Die Jahre gingen ins Land, der Mühlenherr wurde älter und nach und nach ein wenig schrullig, was an der Einsamkeit liegen mochte, die ihm besonders im Winter arg zu schaffen machte. Manchmal schaute er auch ein wenig tiefer als ihm gut tat in den Krug mit Brombeerwein, den er sich im Spätsommer angesetzt hatte. Und so wünschte er sich mehr als alles andere auf der Welt eine Gefährtin für seinen Lebensabend. Doch mit der Zeit wurde er auch ein wenig grantelig, und so kamen immer weniger Dörfler zu ihm in die Mühle und wichen lieber in das Nachbartal aus.

Sein dicker orangeroter Hauskater war, neben einigen Mäusen, die der nicht mehr fangen mochte, und etlichen Unken aus dem nahen Weiher, das einzige Geschöpf, an das er hin und wieder ein Wort richtete. Aber mit der Zeit unterließ er auch das, denn die Tiere verstanden ihn auch schweigend bestens.

Eines Tages kam eine Kräuterfrau in die Gegend und machte an der kleinen Mühle Halt. Und es war eigentlich kein Wunder, dass sich die beiden Einzelgänger ineinander verliebten, zu ähnlich waren ihre Lebenswege. Da es damals nicht so einfach anging, dass Mann und Frau ohne Trauschein zusammenlebten, dauerte es nicht lange, und der Mühlenherr fragte die Frau, ob sie ihn heiraten und zu ihm ziehen wolle. 

Die Kräuterfrau war von vorsichtiger Natur, das hatte das Wanderleben sie gelehrt, und obwohl sie den Mühlenherrn von Herzen mochte, scheute sie doch davor zurück, zu ihm in die Mühle zu ziehen und dort ansässig zu werden, denn allzu eng und düster schien es ihr darinnen.

Nach einigem Hin und Her, Für und Wider beschloss die Kräuterfrau, die ihre Freiheit mehr liebte, als alles andere, doch wieder ihrer Wege zu gehen und ließ den arg betrübten Mühlenherrn in seiner ungemütlichen alten Mühle zurück. 

Einige Zeit danach fanden ihn die Leute tot im Mühlenweiher. Es ging das Gerücht, dass er sich der Gram und Einsamkeit wegen das Leben genommen habe.

Kurze Zeit später, noch ehe sich ein neuer Mühlenherr beim Dorfschulzen um den Kauf der Mühle beworben hatte, fiel diese, alt und morsch wie sie inzwischen war, während eines argen Sommerunwetters in sich zusammen. 

Die Neugierigen unter den Dörflern kamen, um das ein oder andere Ding heraus zu sortieren, das sie noch würden brauchen können, doch einer nach dem anderen zog ohne etwas Nützliches gefunden zu haben, wieder ab. Übrig geblieben war ein ansehnlicher Schuttberg. Unter all dem Verbogenen und Verrosteten, Zerbrochenen und Zerfetzten, Modernden und Schimmligen fand sich nicht ein einziges Stück, das noch hätte von Nutzen sein können.

Der angesammelte Lohn des Mühlenherrn war zu einem einzigen großen Hügel Unrat zusammengesunken und da niemand ihn aufräumte, nisteten sich kleine Tiere dort ein und Fledermäuse fanden unter den zerborstenen Balken ein dämmriges Zuhause. Durch den Tod des Mühlenherren war der Ort in Verruf geraten, manche sagten sogar, es spuke dort und der Mühlherr gehe in mondhellen Nächten in der Mühlenruine um. 

Das trug dazu bei, dass der Mühlenherr nur noch hinter vorgehaltener Hand erwähnt wurde, leise und schnell geflüstert, und es dauerte nicht lange, dass aus Mühlenherr Mühler wurde, das sich dann mit der Zeit in Müller wandelte. Der große Haufen draußen am Waldrand erhielt alsbald den Namen Müllhaufen.

Und, sagte der alte Konrad mit eindringlicher Stimme, ob ihr es nun glaubt oder nicht: So sind die Müller zu ihrem Namen gekommen.

Nun war es still in der Stube und jeder sann den Worten des Alten nach. Die Jüngeren unter uns, besonders die Kinder, hatten nachdenkliche Gesichter, die Älteren schmunzelten.

Der alte Konrad sah in die Runde und ein spitzbübisches Schmunzeln ließ die Lachfältchen um seine wässrigen Augen noch mehr knittern als sonst. Er hatte wohl gerade eben beschlossen, noch eins drauf zu setzen:

»Jaha!« schloss er seine Geschichte, »Und heutzutage gibt es nicht wenige, die dem alten Mühlenherrn, dem Müller, ihren ganz eigenen Respekt zollen und ihren Müll an die alten Plätze bringen und andächtig und in aller Stille dort abladen und des alten einsamen Müll-Herren gedenken!«

Jetzt waren es die Jüngeren, die schmunzelten und zu kichern begannen und von den Älteren bekam so mancher einen roten Kopf und senkte den Blick.

Ein halbwüchsiges vorwitziges Mädchen, dem der Schalk aus den Augen blitzte, sagte zum alten Konrad, dass es jetzt wisse, warum die Müllabfuhr so hieße und so orange angestrichen sei.

»So?« hob Konrad fragend seine Stimme. »Und warum?«

Das sei wegen der Abfuhr, die der Müller von seiner Braut erhalten habe, und das Orange komme von der orangeroten Katze des alten Müllers, antwortete naseweis das Mädchen.

»Da könntest du wohl Recht haben!« sagte der alte Konrad schmunzelnd. 

Ein anderes Kind fragte, warum denn aber heute niemand mehr Mühlherr sage und alle Mühlen einen Müller hätten. 

Und der weise Konrad nickte vor sich hin, griff nach seiner Pfeife und meinte: »Da denke einmal ganz in Ruhe drüber nach. In allen alten Geschichten ist immer auch ein Kern Wahrheit enthalten.«

***

2010