Zwölf Stunden und eine halbe

Wie an allen diesen speziellen Tagen im Hochsommer zieht sich die Zeit endlos in die Länge. Es ist, als wäre sie an einem Gummiband befestigt. Ziehen wir flüchtend daran, dehnt sie sich nur um so mehr, lässt aber kein Entkommen zu.

Wir zählen wieder die Stunden. 

Zwölf und eine halbe.

Schon am Morgen sind wir müde, die vergangene Nacht hat auch uns nicht viel Schlaf gegönnt. Betäubt gehen wir durch den jungen Morgen, der uns mit jedem Schritt älter vorkommt, genau, wie wir uns selbst, hin zu diesem Ort, den wir uns freiwillig gewählt haben. An dem wir gestern schon waren und morgen wohl wieder sein werden.

Wir tauchen in die abgedunkelten Räume wie in eine zähe trübe Suppe. Wir schwimmen darin, uns mit schleppenden Schritten voran tastend. Auf den Stuhl sinken mit Kaffee, der nicht wach macht. Die Leute wollen nicht aus den Betten, genau wie wir erst eine Stunde zuvor. Sie grunzen nur bei unserer Berührung, sind widerspenstig, drehen sich zur Wand und ziehen die Decken wieder über die Köpfe.

Das Wasser der Duschen erfrischt uns nicht. Das Widerstreben der Leute und die Kraft, die wir dagegen setzen müssen, lässt uns schwitzen und der Wunsch, uns einfach mit unter das Wasser zu stellen wird fast übermächtig. Die großflächig nassen Spuren unserer Arbeit auf uns nehmen wir dankbar in Kauf. Wir sind alle nur erzwungen wach.

Vier sind wir. Für zehn Leute. Was normalerweise ein lockeres Arbeiten verheißt, gestaltet sich heute als unvermeidliche Aneinanderreihung von Mühsal. Schicksal halt. Deren und unseres.

Gefühlte Stunden später, als alle sich um den Tisch versammelt haben und wortlos in ihren Schüsseln nach Nahrung schaben, verrät uns der Blick auf die Wanduhr:

noch zehn.

Wir flüchten, auf Abkühlung hoffend, mit der Wäschetonne in den Keller. Der große Spiegel im Fahrstuhl zeigt uns jemanden, den wir nur mit Mühe als uns selbst erkennen: wirres Haar, verschwitztes Shirt, zittrige Hände. Wir schneiden uns Grimassen, die wir zu verdienen glauben.

Der Maschinenraum ist längst erfüllt von der feuchtheißen Luft des riesigen Trockners. Andere sind schneller gewesen. Wir stopfen, die widerlichen Gummihandschuhe an den Händen, Mengen an Wäsche in dunkle Höhlungen und müssen uns abstützen nach dem Aufrichten, weil uns schwarz vor Augen wird.

Die Wetterwarnung verbietet alles, was üblicherweise der Zeit auf die Sprünge hilft: spazieren gehen, Freibadbesuche, das Eiscafé.

Wir kommen uns gefangen vor, und es hilft auch nicht, uns vorzustellen, dass wir immerhin die Aufseher in diesem Gefängnis sind. 

Alle Räume sind anweisungsgemäß abgedunkelt, die Fenster geschlossen. Was munter gemacht hätte, ausgeschlossen. Die lethargische Versammlung im Fernsehraum dämmert vor sich hin, von leisem Schnarchen begleitet. Schlafen dürfen – jetzt – nur ein Traum aus einer anderen Wirklichkeit. 

Noch acht und eine halbe.

Die Uhr mahnt – wie irre das doch ist – eine neue Mahlzeit an, bei der wohl niemand Hunger haben würde. Zeit zum Essen. Dann Zeit für die Mittagsruhe. Zeit für. Zeit gegen. 

Die Leute lassen sich in die Betten bringen ohne Widerspruch. Mit hineinfallen dürfen: Nicht gestattet.

Aufräumen, abwaschen, jeder Handgriff versteht sich als Ablenkung vom Stundenzählen. Zu lustlos, auch noch die Küche zu wischen, obwohl sie es dringend nötig hätte. 

Noch sieben.

Pause, endlich! Wir wollen raus aus dieser Dämmerhöhle, die mehr und mehr zur Hölle wird, je zäher die Zeit sich zieht. Wir treten vor die Tür in den sonnendurchglühten Hof, doch die Hitze sticht derart auf uns ein, dass wir freiwillig ins Haus zurück flüchten. Sie hat sich mit dem Haus verbündet. Es ist, als wollten uns beide nicht mehr freilassen und unbedingt als Geiseln halten. Hingegangen, drin gefangen.

Ein kurzer Halbschlaf, durchsetzt mit Sondenpiepen, Schnarchlauten und entferntem leisem Gejaule. Alle Glieder liegen bleiern, nur nicht aufstehen müssen. Nur kein Anfall jetzt, zu dem wir eilen müssten. 

Der Himmel über dieser Hölle ist gnädig. Wir dürfen ruhen, dahindämmern, uns an einen Strand träumen mit Meeresrauschen und kühler Gischt. Bis das Rauschen in ein Klingeln übergeht, das unweigerlich zur Rückkehr in die Schwüle mahnt. 

Noch sechs.

Dann Eiskaffee machen, heißes Geschirr aus der Maschine räumen. Die Leute wecken. Widerstand und Widerspruch an allen Betten. Unsere Nerven spannen sich, dehnen sich aus wie die schier endlose Dienstzeit. Wir rufen die lange geübte Gelassenheit ab und halten sie fest. Klammern uns an sie, damit nichts geschehen kann, was uns später leid tun würde.

Es müssten noch Schränke aufgeräumt, Kleidung sollte gestopft werden. Unsere Blicke signalisieren uns in stillem Einvernehmen: Heute nicht. Nicht heute! Jeder trägt sie mit sich rum, unfreiwillig, wie aufgezwungen, die Glocke aus Dumpfheit über dem Sollen, die verhindert, dass ein Wollen daraus wird. 

Noch vier.

Ein Tanzfilm läuft im schattigen Fernsehzimmer. Ausnahmslos alle finden sich hier ein. Folgen wie hypnotisiert dem bewegten Treiben auf dem Bildschirm, selbst unfähig auch nur ein Glied zu rühren. Nur der Staub tanzt seiner ewigen Wege. Einer müsste in den Keller, die Wäsche wartet. Lasst sie warten auf ein später, das noch früh genug erscheinen wird. Wir warten auch, auf den Feierabend. 

Noch drei und eine halbe.

Kochen in der heißen Küche. Eine warme Mahlzeit am Tag – das ist die Vorschrift. Eine Ausnahme machen? Nichts da! Stehen im Dunst, aufrecht halten. Die Klamotten kleben. Die Nudeln auch. Gemüseschnippeln verfluchen und das kochende Nudelwasser gleich mit.  

Doch es schmeckte, unerwarteterweise. Wahrscheinlich Frustessen, denn wirklich Hunger hat heut niemand. 

Nur noch zwei.

Endlich sind alle gewaschen und umgezogen für die Nacht. Niemand quengelt, haben wohl keine Kraft mehr dafür. Da sitzen sie, die Anvertrauten, genauso matt wie wir. Schauen stumpf vor sich hin oder teilnahmslos zum Bildschirm. Unser Mitgefühl für sie dehnt sich auf uns aus. 

Nur noch eine.

Berichte schreiben. Konzentrieren. Konzentrieren! Keiner fragt, was der andere heute noch so macht. Am Feierabend, am Abend noch feiern? Jeder weiß, da findet nichts mehr statt. Da will man nur noch seine Ruhe und tun am besten gar nichts mehr. Nur noch in die eigene kleine Höhle zurück, hoffend, dass sie tagsüber nicht zur Hölle wurde. Ja, man hat sie ebenso verrammelt und verdunkelt wie diese hier. Irre, in diesen blendenden Tagen in solcher Dämmerung zu leben, hier wie dort. 

Noch zehn Minuten.

Die Nachtwache kommt. Mitleidige Blicke treffen uns und werden mit ebensolchen erwidert. Wir dürfen jetzt gehen. Sind entlassen, haben unsere Zeit hier abgebüßt. Sie hat ihre noch vor sich. 

Zwölf lange Stunden und eine halbe. 

Und sie wird sie zählen, genau wie wir. Die Nacht dürfte kaum Abkühlung bringen, an Schlaf wird also nicht zu denken sein – hier unterm Dach in der dritten Etage.

Punkt acht ist Sense, finito, Ende Gelände.

Es ist abgezählt – keine Stunde, keine Minute, keine Sekunde mehr.

Aufatmend treten wir ins Freie, in die Freiheit. Die vielen Stunden schnurren plötzlich zusammen auf genau diesen einen Punkt: befreit hinaustreten dürfen. Wir sind entlassen.

Die Gewissheit, durchgehalten, unser Bestes gegeben zu haben, lässt uns, wieder beweglicher werdend, ausschreiten dem eigenen Bette zu. 

Macht’s gut. Bis dann. Normalerweise bis morgen. Masochismus der besten Art, denn wir lieben unsere Arbeit.

So ist er, im Hochsommer, ein ganz normaler Wochenenddienst im Dachgeschoss. Der ganz normale Wahnsinn.

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2012